Es war Papst Paul VI., der Österreich als "Insel der Seligen" bezeichnete und damit die Vorlage für eine willkommene Selbstbeschreibung lieferte: Österreich als kleine Welt, wo man es sich gemütlich machen und sich abschotten kann gegen alles Unheil von außen. Regelmäßig landet Wien in Umfragen auf Platz eins als lebenswerteste Stadt weltweit, als Metropole, wo vieles funktioniert und man sich wenig Sorgen machen muss, schon gar nicht um die eigene Sicherheit. Es ist tatsächlich so, dass selbst hochrangige Politiker ohne Personenschutz im Kaffeehaus anzutreffen sind und jede Gewalttat eine Eilmeldung der Medien nach sich zieht.
Umso heftiger war der Schock, als sich mindestens ein Täter am Montagabend seinen Weg durch die Wiener Innenstadt bahnte und eine Blutspur, vier Tote und mehr als ein Dutzend Verletzte, hinterließ. Für Sicherheitsexperten war es dagegen nur eine Frage der Zeit, bis sich auch in Österreich ein Anschlag ereignen würde. Wien ist eine kulturelle Metropole, Sitz der Opec und von UN-Organisationen. Vor allem in den Achtzigerjahren war Wien Schauplatz von Anschlägen im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt.
In den vergangenen Jahren galt Österreich eher als Durchreise- oder Rückzugsort potenzieller Terroristen. Der "Islamische Staat" (IS) hatte und hat in Österreich seine Anhänger. 320 sind den Behörden bekannt, die nach Syrien oder in den Irak gereist sind oder dorthin wollten, um zu kämpfen. Zumindest 93 sind zurückgekehrt und stellen eine Gefahr dar. Einer von ihnen ist auch der erschossene Attentäter, der noch vor der Einreise nach Syrien abgefangen werden konnte: jung, radikalisiert und bereit, sich dem IS anzuschließen. Er passt genau in jenes Bild eines Gefährders, das der frühere Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, Peter Gridling, gezeichnet hat.
Im jüngsten Verfassungsbericht wird der islamistische Terror als die größte Gefahr für die Sicherheit Österreichs bezeichnet. Aber wirklich ernst genommen wurde diese Bedrohung nicht. Auch der jetzige Attentäter wurde vorzeitig aus der Haft entlassen. Es gibt zu wenige Programme in Österreich, um diese radikalen Menschen aus ihrer Gedankenwelt zu befreien.
Dazu beigetragen haben mag die allgemeine österreichische Laissez-faire-Haltung, es wird schon nichts passieren. Fatal war, wie sich nun herausstellt, dass die Sicherheitsbehörden seit dem Amtsantritt der ÖVP-FPÖ-Regierung vor drei Jahren vor allem mit sich selbst beschäftigt waren: Die internen Vorwürfe, Querelen und Intrigen zwischen Verfassungsschützern und dem Innenministerium führten sogar zu einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Die Konfrontation innerhalb der Sicherheitsbehörden nahm zu, die Aufmerksamkeit für die eigentlichen Aufgaben ab.
Zugleich fand eine politische Polarisierung statt. Dazu trug Sebastian Kurz bei, der in seinen Wahlkämpfen den politischen Islam zu einem zentralen Thema erkor. Der konservative Politiker versprach bei vielen Gelegenheiten, den Kampf gegen den politischen Islam entschiedener zu führen. Als ÖVP und Grüne eine Koalition bildeten, vereinbarte man die Schaffung einer "Forschungs- und Dokumentationsstelle für Antisemitismus, Rassismus und religiös motivierten politischen Extremismus". Binnen weniger Wochen machte die Kanzlerpartei daraus eine "Dokumentationsstelle Politischer Islam". Diese Art politischer Kreuzzug, die Kurz anführt, trägt zum Eindruck vieler Musliminnen und Muslime bei, dass ihnen die Mehrheit in diesem Land generell nicht freundlich gesinnt ist. Der Widerstand gegen die Türkenbelagerung 1683 gehört zum österreichischen Selbstverständnis, der Widerstand gegen einen EU-Beitritt der Türkei zum Programm jeder Regierung.
Die Tat des Täters trägt dazu bei, das Klima in Österreich weiter zu vergiften und die Gesellschaft zu spalten. Wie in Halle und Hamburg waren Juden ein Ziel für tätliche Angriffe. Dabei ist jüdisches Leben in den vergangenen Jahren wieder verstärkt nach Wien zurückgekehrt, ein positives Zeichen nach der Vertreibung Zehntausender durch die Schoah. Nach diesem Attentat sehen sich die jüdischen Bürger gezwungen, sich stärker zu verbarrikadieren und abzuschotten.
Es war aber auch ein Anschlag auf das Lebensgefühl der Wiener - nicht zufällig am Vorabend des Lockdown, der in Österreich mit einer nächtlichen Ausgangssperre versehen ist. Denn das Ziel war, möglichst viele zu töten: wahllos, gnadenlos. Und zwar jene, die sich im Vergnügungsviertel Wiens, dem sogenannten Bermudadreieck, zusammengefunden haben. Dieses Gefühl, man könne sich vor den Widrigkeiten der Welt in ein Theater, ein Kaffeehaus oder einen Schanigarten flüchten, hat Schaden genommen in diesen Stunden, die Österreich für immer verändert haben.