Weißrussland:Sprache als Politikum

Lesezeit: 3 Min.

Das Weißrussische wird vom Russischen verdrängt, nun erstarkt eine Gegenbewegung. In Schulen erfährt die Sprache eine Renaissance.

Von Frank Nienhuysen, München

Es war fast noch Nacht, als sich die ersten vor die Schule stellten und den Morgen kaum erwarten konnten. Für die ungeduldigen Eltern ging es um viel: Sie wollten ihre Kinder am Minsker Gymnasium Nr. 23 anmelden. Eine weißrussischsprachige Schule in Weißrussland - das sollte eigentlich so wenig sonderbar sein wie eine deutschsprachige Schule in Deutschland oder eine englischsprachige in England. In Weißrussland ist es eine Ausnahme. Knapp 87 Prozent aller Schüler im Land werden auf Russisch unterrichtet, nur etwa 13 Prozent auf Weißrussisch. In der Hauptstadt Minsk sind es sogar nur 1,8 Prozent. "Eine Katastrophe", titelte die Zeitung Nascha Niwa dieser Tage, als die neuesten Zahlen der Statistik-Behörde Belstat erschienen, und schrieb: "Jahr für Jahr schreitet die Russifizierung im Bildungssystem voran."

Vielleicht ist nun die Zeit der Wende gekommen und die Schlange noch vor Anbruch der Dämmerung ihr sichtbares Zeichen. Denn der statistische Tiefpunkt hat auch mit dem Sterben der Dörfer und ihrer Schulen zu tun, in denen sich das Weißrussische erhalten hatte. Insgesamt aber wächst das Interesse an der weißrussischen Sprache, weshalb die Schuldirektorin Irina Pasjukewitsch nun selber etwas lernen muss. Sie muss lernen, Eltern zu vertrösten. Pasjukewitsch leitet das Gymnasium Nr. 23, und sie sagt am Telefon, "bis vor zwei Jahren konnten wir alle Anmeldewünsche annehmen, aber das hat sich geändert. Immer mehr Minsker wollen ihre Kinder auf eine Schule schicken, in der auf Weißrussisch unterrichtet wird. Wir müssen jetzt leider auch ablehnen."

Aufregung gab es in den vergangenen Wochen vor allem um das Minsker Gymnasium Nr. 4, auch eine dieser seltenen Schulen, in denen ausschließlich auf Weißrussisch gelehrt wird. Eine Lehrerin und Mutter einer Schülerin sammelte dort Unterschriften, weil sie sich daran stört, dass ihre Kollegen sofort Russisch miteinander reden, sobald sie raus sind aus dem Klassenzimmer und ihre Pflicht erfüllt hätten. Sie bittet in dem Schreiben, "die faktische Zerstörung der weißrussischen Sprache in den Wänden unserer Schule aufzuhalten".

Der Einsatz für die weißrussische Sprache ist in dem autoritär geführten osteuropäischen Land weit mehr als ein Fall für betroffene Eltern, Schüler und Bildungspolitiker. Er ist ein Politikum. Weißrussland hat eine wechselvolle Geschichte, das heutige Staatsgebiet gehörte jahrhundertelang zum Großfürstentum Litauen, dann zum polnisch-litauischen Staat, es wurde dem russischen Zarenreich einverleibt und war für Jahrzehnte Teil der Sowjetunion, in der die russische Sprache Lingua Franca war. Nach der Unabhängigkeit 1991 und mit dem frischen Bewusstsein, eine souveräne Nation zu sein, wuchs die Zahl der weißrussischen Schulen. Dann kam Alexander Lukaschenko.

Der neue Machthaber, politisch sozialisiert im Sowjetsystem, förderte wieder die russische Sprache, auch in der Bildung. Weißrussisch wurde vor allem noch in den Dörfern und deren Schulen gesprochen - und als ein Akt des Rebellentums vor allem in der Kunstszene. Künstler wie der Rocksänger Ljawon Wolskij sangen weißrussisch, wurden deshalb mit Misstrauen bedacht und auch mit Verboten. Nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Belapan erschienen im vergangenen Jahr von allen Büchern, Broschüren und Zeitungen lediglich knapp zwölf Prozent auf Weißrussisch, aber das war immerhin schon mehr als im Jahr zuvor. Denn die Sprache ist wieder en vogue, auch das hat mit Präsident Lukaschenko zu tun. Und mit dem Ukraine-Konflikt.

Weißrussland ist seitdem misstrauisch geworden gegenüber dem großen Nachbarn Russland. Es will sich unabhängiger zeigen, souverän. Und was würde das mehr symbolisieren, als die eigene Sprache, die neben dem Russischen ja auch Staatssprache ist, zu stärken und ihr mehr Raum zu überlassen? Lukaschenko hat einmal betont, dass er mit seinem Sohn selber mehr und mehr weißrussisch rede. Eine Gratwanderung bleibt es trotzdem. Im Gefängnis sitzt seit derzeit wegen angeblicher Vorbereitung von Massenunruhen etwa der Online-Buchhändler Ales Jaudacha, der sich auf den Vertrieb weißrussischer Bücher spezialisiert hat.

Das Rad ist jedoch schwer zurückzudrehen. Mehr und mehr Eltern setzen sich für weißrussischen Unterricht ein, das Angebot an den Schulen nimmt langsam zu. Vielleicht wird es in Weißrussland sogar auch mal eine Universität geben, in der wie selbstverständlich auf Weißrussisch gelehrt wird.

© SZ vom 03.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: