Was treibt Recep Tayyip Erdoğan an?:Straßenkämpfer

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Der türkische Präsident wurde in einem Istanbuler Slum groß. Das hat ihn geprägt - genauso wie der gewaltsame Tod des ersten frei gewählten Premiers seines Landes.

Von Christiane Schlötzer

Adnan Menderes war der Sohn eines Gutsbesitzers. Er besuchte eine britische Eliteschule in Istanbul, trug gute Anzüge, studierte Jura. Später wurde Menderes der erste Ministerpräsident der Türkei, der aus freien Wahlen hervorging.

Recep Tayyip Erdoğan verbrachte seine Kindheit in einem Istanbuler Slum. Sein Vater war Seemann, er verwaltete die Kasse der Matrosen, die auf den Weltmeeren unterwegs waren. Der Umgangston in den verwinkelten Gassen von Kasımpaşa war rau, Fremdsprachen lernte man hier allenfalls vom griechischen Nachbarsjungen oder in der Moschee, wenn der Koran auf Arabisch rezitiert wurde. Erdoğan senior gab bei Wahlen seine Stimme Adnan Menderes.

Dessen Partei trat als Anti-Eliten-Bewegung auf, trotz der Herkunft ihres Vorsitzenden. Dessen Verachtung galt der republikanischen Kaste, den Kemalisten, die seit der Staatsgründung 1923 die führende politische Rolle spielten. Menderes gewann die Sympathien der "kleinen Leute", die er heftig umwarb, wenn er sagte: "Wir haben unsere bis jetzt unterdrückte Religion von der Unterdrückung befreit." Und: "Der türkische Staat ist muslimisch und wird muslimisch bleiben." Menderes war ein islamischer Populist - und für die Kemalisten eine Provokation.

Adnan Menderes starb am Galgen, nach zehn Jahren im Amt, seine Macht beendete 1960 ein Militärputsch. Bevor er vor ziemlich genau 55 Jahren aufgehängt wurde, hatte er versucht, sich mit Schlaftabletten zu vergiften, aber seine Gefängniswächter pumpten ihm den Magen aus. Die Generäle wollten Menderes hängen sehen, und sie ließen ein Foto des Toten verbreiten: in einen weißen Kittel gekleidet, mit gefesselten Händen, an einem Strick baumelnd.

Ein Präsidentenberater sagt: "Das erste Ziel der Putschisten war es, Erdoğan zu töten."

Erdoğan erzählt immer wieder, dass er in seinem Elternhaus das Bild des gefesselten Menderes gesehen habe, in der Illustrierten Hayat Mecmuası. Die war so etwas wie die türkische Quick und lag bei vielen Familien auf dem Teetisch. Für ihn, den Siebenjährigen, sei das Foto ein Schock gewesen. Gemeinsam mit seinem Vater habe er um Menderes geweint, sagt er. Ob die Szene im Hause Erdoğan sich genau so abgespielt hat oder ob der einstige Premier und heutige Staatspräsident sie im Rückblick zum Kindheitstrauma dramatisiert, ist schwer zu sagen. Auf die dokumentarische Genauigkeit kommt es hier aber gar nicht an. Denn die Parallelen zwischen dem einstigen politischen Erfolg von Menderes und Erdoğans eigenem Aufstieg sind verblüffend, und dem konservativen Politiker sind sie in jedem Fall bewusst. In der jüngeren Vergangenheit hat Erdoğan bei öffentlichen Auftritten immer wieder Menderes erwähnt und ihn gepriesen, als "Menschen, der in unseren Herzen ist".

Dies wäre an sich noch nichts Ungewöhnliches, schließlich ist der einst zum Tod verurteilte Premier längst von der türkischen Politik rehabilitiert worden. Straßen, Plätze und der Flughafen der Millionenstadt Izmir tragen seinen Namen.

Aber bei Erdoğan gibt es eben diesen speziellen Menderes-Moment: das Wissen, wie der Mann endete, in den Händen putschender Generäle. Die Angst, ihm könnte ein ähnliches Schicksal beschieden sein, dürfte den Präsidenten nicht erst seit dem gescheiterten Umsturz begleiten. Mordversuche soll es schon öfter gegeben haben, Näheres wird selten bekannt. 2012 gelang es einem bewaffneten Mann, das Premieramt zu betreten und mehrere Schüsse abzugeben. Erdoğan soll sich da gerade mit mehreren Ministern in einem Besprechungsraum befunden haben. So weit kam der Eindringling nicht.

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(Foto: Polaris /Studio X)

Recep Tayyip Erdoğan leistet den Militärdienst in Istanbul ab, wo er später (1994-1998) Bürgermeister ist.

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(Foto: Murad Sezer/AP)

In dieser Zeit wird er wegen eines Gedichts zu Gefängnis verurteilt. Das treibt seine Anhänger zu Protesten auf die Straße.

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(Foto: Polaris /Studio X)

Erdoğan ist das jüngste von fünf Kindern, der Vater ist Seemann.

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(Foto: Polaris /Studio X)

Der junge Erdoğan ist ein talentierter Fußballspieler. Eine Profi-Karriere erscheint durchaus denkbar. Ein Problem sind nur die kurzen Hosen. Die mag der fromme Vater nicht.

Am Donnerstag dieser Woche sagte Erdoğans außenpolitischer Chefberater Ibrahim Kalın: "Das erste Ziel der Putschisten war es, Erdoğan zu töten." Als in Istanbul die Panzer auf die Bosporusbrücken rollten, war Erdoğan gerade mit seiner Frau, Tochter Esra, drei Enkelkindern und Schwiegersohn Berat Albayrak zum Kurzurlaub in einem Hotel in Marmaris an der Ägäisküste. Dass seine Familie bei ihm war, habe "den Ernst der Lage verschärft", sagte Erdoğan nach dem gescheiterten Putsch in einem Interview mit dem US-Sender CNN, der in der Türkei durch sein Pendant CNN Türk einen Heimvorteil hat. Erdoğan kennt die Geschichte seines Landes gut, schon bei den Osmanen waren die Söhne der Sultane nicht vor ihren Rivalen sicher. Erdoğan schiebt seine Familie, seine zwei Söhne und zwei Töchter, bei politischen Auftritten immer wieder in die erste Reihe, nach altem orientalischen Brauch. Bei Albayrak muss man annehmen, dass er den Preis dafür kennt. Er wirkt in der Putschnacht bei einem Fernsehauftritt bleich und abgekämpft, wie ein Mann, der sich nur noch schwer im Griff hat. Albayrak, nebenbei auch Energieminister, steht in diesem Moment fast Schulter an Schulter mit seinem Schwiegervater am Istanbuler Flughafen. Nur Erdoğan, der einen weit gefassteren Eindruck macht, spricht in die Kameras.

Später sagt dieser zu CNN, "die Idee", er könnte bei der Landung in Istanbul nicht mehr Präsident sein, sei ihm "gar nicht in den Sinn gekommen". Erdoğans Fähigkeit, wie ein Boxer einzustecken und einfach stehen zu bleiben oder wieder aufzustehen, wenn er zu Boden ging, wird auch oft mit seiner Herkunft erklärt. Ohne den auf der Straße geschulten Überlebensinstinkt war ein Kasımpaşalı tatsächlich einst schon in den angrenzenden besseren Vierteln verloren. "Erdoğan betritt jedes Schlachtfeld mit offen gezückten Waffen und gewinnt fast immer. Falls er doch einmal verliert, zieht er sich zurück, um den Gegner schließlich mit einer neuen Taktik entweder zu umgehen oder ganz auszuschalten", schreibt die Journalistin Çiğdem Akyol in ihrer anschaulichen, erst jüngst auf Deutsch erschienenen Erdoğan-Biografie.

"Uns geht es so viel besser als früher", schwärmen Erdoğans Wähler - und dies seit 14 Jahren

Rückzug und Angriff: Im Jahr 2001, als Erdoğan auch einer europäischen Öffentlichkeit bekannt wird, hat er eigentlich gerade Politikverbot. Der frühere Bürgermeister von Istanbul hatte schon 1997 ein Gedicht eines nationalistischen, pantürkischen Dichters zitiert, in dem die Zeilen vorkommen: "Die Minarette sind unsere Bajonette, die Moscheen unsere Kasernen." Erdoğan relativierte in einer längeren Rede danach zwar die Schärfe dieser Worte, aber wegen "Aufruf zum Sturz" der Regierung wird er von einem Staatssicherheitsgericht zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, von denen er vier Monate absitzen muss. Und er bekommt, weit dramatischer, ein "lebenslanges" Politikverbot.

Der Ringkämpfer lässt sich nicht beirren. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung im Dezember 2001 sagt er mit Blick auf die nächste Parlamentswahl: "Ich werde kandidieren." Da gibt es seine Partei, die AKP, gerade mal dreieinhalb Monate. Alle Vorgängerparteien mit islamischer Prägung wurden stets verboten. Erdoğan sucht einen neuen Weg, er interessiert sich in dieser Zeit stark für die deutschen Christdemokraten. Während er vor seiner Gefängniszeit noch überzeugt davon war, ein Muslim könne nicht auch Laizist sein, sagt er nun: "Ein Muslim kann ein laizistisches System akzeptieren. Und das tue ich." Religion sei "Privatsache", sein Verhältnis zu Gott "rein persönlich".

Zu den Zielen der AKP gehört von Anfang an der EU-Beitritt. Die Partei ist zudem neoliberal, sie beseitigt die ökonomische Dominanz des Staates (auch das Militär hat ein eigenes Wirtschaftsimperium und sieht den Umschwung ungern), aber Erdoğan vergisst auch das schlichte Volk nicht. Er kultiviert jetzt seine Vergangenheit als Slum-Kind, unterfüttert seine Reden mit Vulgärem, bedient das anti-intellektuelle Ressentiment der weniger Gebildeten. Er tut vieles, was sein Vorbild Menderes getan hat, nur ist er mit Rückbesinnungen auf die Religion weit vorsichtiger.

SZ-Grafik; Quelle: SZ-Recherche (Foto: sz grafik)

Und die AKP arbeitet erst einmal, angetrieben von ihrem rastlosen Chef, mit Bienenfleiß. Krankenhäuser werden modernisiert, die kommunalen Dienste digitalisiert, U-Bahnröhren und Autobahnen in Rekordzeit gegraben und geteert. Die Löhne steigen, die Wirtschaft boomt, ausländische Investoren stehen Schlange, das Land lebt im Konsumrausch - bei historisch niedriger Inflation. "Uns geht es so viel besser als früher", schwärmen AKP-Anhänger vor jeder Wahl - seit 14 Jahren. Die Partei sorgt nicht nur für Brot auf dem Tisch, sie füllt nicht nur die Mägen, sie erfüllt ihre Anhänger auch mit neuem Stolz.

Nicht alle sind einverstanden mit dem Aufsteiger Erdoğan. Die Generäle werfen ihm früh den Fehdehandschuh vor die Füße. Generalstabschef Hüseyin Kıvrıkoğlu, bis 2002 im Amt, warnt, der "Kampf" gegen islamische Fundamentalisten werde in der Türkei "noch tausend Jahre weitergehen". Was folgt, ist bekannt: Erdoğan beschneidet den Zugriff des Militärs auf die Politik - scheibchenweise, aber systematisch. Eine Mehrheit der Türken findet das gut und richtig, schon deshalb, weil die Militärputsche von 1960, 1971 und 1980 als traumatisierende Erfahrung immer noch erinnert werden. In vielen Familien gibt es bis heute mindestens einen Verwandten, der Gefängnis, Folter oder Exil erlebte. Und trotz aller Wertschätzung, die viele Türken dem Soldatentum als solchem entgegenbringen, nach dem Wehrdienst (Zivildienst gibt es nicht) sind viele junge Männer ernüchtert: Berichte über Demütigungen durch Vorgesetzte füllen Dokumentationen von Menschenrechtsgruppen.

Befehl und Gehorsam: Das sind auch aus der türkischen Geschichte bekannte Übel. Rekruten, die jetzt für die Putschisten agierten, berichten, sie seien nur zu einer Übung befohlen worden. Natürlich fragte da keiner, wohin es geht. Oder: Warum auf die Bosporusbrücke? Auch mehr als eine Woche nach dem Putschversuch sind viele Abläufe unklar. Erdoğan sagt, er habe erst gegen 22 Uhr von einem Schwager von den Coup erfahren. Danach habe er vergeblich versucht, den Geheimdienst zu erreichen. Dessen Chef, Hakan Fidan, der bislang als Vertrauter Erdoğans galt, soll schon um 16 Uhr Bescheid gewusst haben. Um 1.30 Uhr in der Nacht erreichen Putschisten Erdoğans Hotel in Marmaris, der Präsident war, wie mehrere türkische Medien berichten, erst etwa eine halbe Stunde zuvor nach Istanbul aufgebrochen. Es war also knapp.

Was Erdoğan in Kasımpaşa nicht gelernt hat: ein Rezept, ein verstörtes Land zu versöhnen

Von Erdoğan heißt es, er sei extrem misstrauisch, der Putschversuch dürfte seine Angst vor Verrat ins fast Unermessliche steigern. Immer wieder hat er engste Berater, ja Weggefährten, aus seinem Umfeld entfernt, weil er Kritik oder Rivalität befürchtete. Zu den prominentesten Opfern gehören der frühere Staatspräsident Abdullah Gül und Ex-Premier Ahmet Davutoğlu. Auch der Prediger Fethullah Gülen war einst ein Freund. Der wurde Erdoğan mit seiner Millionen-Gefolgschaft in und außerhalb der Türkei eindeutig zu mächtig. Es wirkt, als hole die Geschichte Erdoğan ein. Er wollte eine "Neue Türkei" schaffen und hat sich von den alten türkischen Übeln anstecken lassen: dem Gift der Autokratie, der Polarisierung als Mittel der Politik. Das war alles schon da vor dem Putschversuch. Die Putschisten haben mit ihrer Wahnidee, sie müssten nur Erdoğan ausschalten und das Parlament bombardieren, dann würde das Volk ihnen schon folgen, alles nur noch schlimmer gemacht. Machterhalt ist für Erdoğan jetzt eine Überlebensfrage.

Die Türkei von 2016 ist nicht die von 1960, das hat sie auch Erdoğan zu verdanken. Das Volk nimmt es nicht hin, wenn seine Regierung vom Militär gekapert wird. Aber damit ist noch nichts gut. Ein Rezept, wie aus einer tief verstörten Türkei wieder ein Land wird, in dem nicht jeder sich vor dem anderen fürchtet, hat Erdoğan in Kasımpașa vermutlich nicht gelernt.

© SZ vom 23.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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