Roman Grafe, geboren 1968, ist Sprecher der Initiative "Keine Mordwaffen als Sportwaffen!" 2009 sprach er als Sachverständiger im Innenausschuss des Bundestages zum Waffenrecht.
"Unsere Kinder haben am 11.März 2009 den Preis bezahlt für das Versagen der Familie K.", sagte die Nebenklägerin Barbara Nalepa am Ende des Winnenden-Prozesses im Landgericht Stuttgart. Ihre Tochter Nicole und vierzehn weitere Schüler, Lehrer, Passanten wurden beim Amoklauf des Tim K. erschossen, mit einer legalen Sportwaffe. Der angeklagte Jörg K. hatte seinen psychisch auffälligen Sohn im Schützenverein an der Mordwaffe ausgebildet und die Pistole vom Typ Beretta vorschriftswidrig im Wäscheschrank aufbewahrt. Der Prozess, in dem an diesem Donnerstag das Urteil gefallen ist, zeigt eine private und gesellschaftliche Normalität, deren tödliche Gefahren unvermindert sind.
Ein ganz normaler Mensch sei Tim K. gewesen - "wie jeder andere auch" -, erklärte sein Freund Dennis R. als Zeuge vor Gericht. Ganz normal auch die gemeinsamen Killerspiele am Computer: "Man geht halt durch die Räume und zielt auf den Kopf, weil der Kopf gibt mehr Punkte." Noch am Tag vor dem Schulmassaker sei Tim "ganz normal" gewesen, ruhig wie immer. "Bis zu diesem furchtbaren Geschehen waren wir eine ganz normale Familie", beteuerten Tims Eltern ein paar Tage danach.
Das Haus der Familie K. sei mit "schwachsinnigem Tötungspotential" angefüllt gewesen, formulierte ein Opfer-Anwalt, mit "großkalibrigem Protz-Werkzeug". In der Familie sei das "obskure, mit Waffen gepflasterte Zimmer des Sohnes" halt so zur Kenntnis genommen worden.
Selbst nach dem Gemetzel in Winnenden haben Legalwaffen-Besitzer nachweislich hundertfach ihre Schießeisen unverschlossen aufbewahrt - im Nachttisch, im Kleiderschrank, als Wanddekoration. Dabei gibt es allein in Bayern etwa eintausend Haushalte, in denen legal Schusswaffen liegen und gleichzeitig depressive, möglicherweise suizidgefährdete Jugendliche wohnen. Dennoch hat die Staatsanwaltschaft im Winnenden-Prozess auf eine spürbare Bestrafung des Angeklagten verzichtet und nur eine Bewährungsstrafe beantragt. Eine solche symbolische Strafe würde nicht abschreckend, sondern bagatellisierend wirken. Damit vernachlässigt die Staatsanwaltschaft die dringend erforderliche Generalprävention, obwohl die nächsten Opfer von tödlichen Sportwaffen nur eine Frage der Zeit sind.
Bis heute dürfen rund zwei Millionen Sportschützen mit den gleichen Waffen trainieren, wie sie bei den Amokläufen in Erfurt, Winnenden und Lörrach verwendet wurden: Glock, Pumpgun, Beretta, Walther. Alles ganz normal. So begünstigt das deutsche Waffenrecht Mordserien.
Die dafür verantwortlichen Regierungsparteien, ebenso wie die kampfstarken Sportschützen-Verbände, nehmen die absehbaren Folgen des laschen Waffengesetzes nach wie vor in Kauf - den Preis dafür werden wieder andere zahlen. Menschen wie die Winnender Realschülerin Nicole Nalepa und ihre Familie.
Jahr für Jahr werden in der Bundesrepublik Deutschland Menschen mit Schusswaffen von Sportschützen getötet - 2010 waren es nicht weniger als zehn. Allein in den vergangenen zehn Jahren haben Sportschützen im privaten Umfeld mehr Menschen erschossen als bei den Schulmassakern in Erfurt und Winnenden zusammen. Mehr als hundert Todesopfer von Sportwaffen seit 1991 sind bekannt - und verdrängt.
Die Initiative "Keine Mordwaffen als Sportwaffen!" fordert seit dem Winnender Schulmassaker ein Verbot tödlicher Sportwaffen, egal welchen Kalibers. Im Juli 2010 habe ich als Sprecher der Initiative gemeinsam mit Winnender Hinterbliebenen Verfassungsbeschwerde gegen das deutsche Waffengesetz eingelegt.
Vorbild England
Darin heißt es: "Aufgrund der staatlichen Schutzpflicht muss der Staat dort, wo er Risikobereiche nicht ausreichend absichern kann, Verbote aussprechen - insbesondere dann, wenn die drohende Grundrechtsverletzung irreparabel ist oder die drohende Gefährdungslage unbeherrschbar ist. Die Gefährdungslage durch legale, tödliche Sportwaffen ist trotz der gesetzlichen Regelungen - wie die entsprechenden Mordserien der vergangenen Jahre gezeigt haben - unbeherrschbar. Wer erlaubt, dass tödliche Schusswaffen millionenfach als Sportgeräte verteilt werden, muss damit rechnen, dass diese Waffen zum Morden benutzt werden." Das Bundesverfassungsgericht entscheidet hoffentlich noch rechtzeitig vor weiteren Sportwaffen-Morden.
Hat die schweigende Mehrheit im Land Schuldgefühle, weil sie spätestens seit dem Erfurter Schulmassaker von den Millionen tödlichen Sportwaffen weiß und nicht weiter nachfragt? Nein, wir möchten am liebsten vergessen, könnte die Antwort lauten. Amokläufe sind aber keine Naturkatastrophen, sondern menschliches Tun, das man zumindest erschweren kann. Kein gesunder Mensch braucht tödliche Waffen als Mittel zum Spaß. In vielen deutschen Sportschützenvereinen schießt man schon jetzt nur mit Druckluftwaffen.
In England wurden nach dem Schulmassaker in Dunblane 1996 private Faustfeuerwaffen verboten; seitdem hat es dort keinen Amoklauf in einer Schule gegeben. Die Zahl der in England mit solchen Waffen begangenen Morde ist die niedrigste seit mindestens 20 Jahren.
Warum hat die Entwaffnung der Sportschützen in Großbritannien nur ein Jahr gedauert, trotz des gewaltigen Protestes von Schützenvereinen und Waffenlobby? Weil beherzte Bürger und die Zeitung Sunday Mail in nur vier Monaten mehr als eine Million Unterschriften für das sofortige Verbot von privaten Faustfeuerwaffen gesammelt hatten. Und weil die Regierungsparteien - anders als in Deutschland - den Konflikt mit der dort nur kleinen Wählergruppe der Sportschützen (ca. 60.000 Mitglieder) nicht scheute.
"Die Leute verstehen nur Angst. Doch sie wollen sich nicht identifizieren mit den Opfern", sagt Nebenkläger Jurij Minasenko. Auch seine Tochter wurde mit einer legalen Waffe erschossen. Gisela Mayer, die Mutter der in Winnenden ermordeten Referendarin Nina Mayer, erinnert: "Ich habe mich sicher gefühlt - noch am Tag, als es passierte." Sie meint diesen Satz als Warnung - an die "noch nicht Betroffenen".