Verwirrung um chinesischen Dissidenten:Chen bittet "inständig" um Aufnahme in den USA

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Noch gestern schien es, als sei eine Lösung für den Fall Chen Guangcheng gefunden: Lächelnd verließ der blinde Dissident die US-Botschaft in Peking, chinesische Behörden versprachen ihm ein Leben "in Sicherheit". Doch nun hat sich alles geändert. Chen fühlt sich bedroht. Und es gibt Zweifel an der Rolle der USA.

Barbara Galaktionow

Freiwillig, so hieß es gestern, habe der chinesische Dissident Chen Guangcheng die US-Botschaft in Peking verlassen. Doch schnell wurden gegenteilige Äußerungen des Regierungskritikers bekannt. Vom Druck ist nun die Rede, den US-Vertreter ausgeübt haben sollen, und von massiven Drohungen der chinesischen Behörden. Nun fordert der blinde Menschenrechtler, in den USA aufgenommen zu werden.

Es herrscht Verwirrung über die Zusammenhänge - und die Motive, die Chen antreiben.

Sechs Tage lang hatte sich der 40-Jährige in der US-Vertretung aufgehalten - Tage, an denen zwischen US-Diplomaten und Vertretern der chinesischen Regierung über das Schicksal des Aktivisten verhandelt wurde, der vor allem durch sein Engagement gegen die chinesische Ein-Kind-Politik bekannt wurde. Dann ließ Chen sich in ein Krankenhaus in Peking bringen, wo er seine Frau und seine beiden Kinder traf - seinen kleinen Sohn einem Medienbericht zufolge das erste Mal seit zwei Jahren.

Wie US-Diplomaten sagten, geschah dieser Schritt, nachdem die chinesischen Behörden ihm und seiner Familie ein Leben in China "in Sicherheit" versprochen hatten. US-Außenministerin Hillary Clinton, die gerade zu strategischen und wirtschaftlichen Gesprächen in dem Land ist, äußerte sich zufrieden über die Abmachung. Sie entspreche "Chens Wünschen und unseren Werten".

Was Chen amerikanischen Medien sagte, hörte sich nun allerdings ganz anders an. In mehreren Telefoninterviews sprach er davon, dass von US-Vertretern massiver Druck auf ihn ausgeübt worden sei, die Botschaft so schnell wie möglich zu verlassen. "Nicht von den Botschaftsmitarbeitern, aber von anderen", sagte er der Newsweek- und Daily Beast-Korrespondentin Melinda Liu. Man hätte ihm zu einem Zeitpunkt, zu dem er völlig isoliert gewesen sei, eine indirekte Drohung der chinesischen Behörden übermittelt.

Zudem äußerte Chen die Hoffnung, unter dem Schutz der USA das Land verlassen zu können: "Ich hoffe inständig, dass es mir und meiner Familie möglich sein wird, mit Hillary Clintons Flugzeug in die USA auszureisen", sagte Chen weiter.

Bleiben oder ausreisen - wurde Chen falsch verstanden? Hat er seine Meinung geändert? Oder haben die Amerikaner den Dissidenten gar mit unlauteren Methoden zum Verlassen der Botschaft gebracht, in die er Ende April aus seinem Hausarrest in der ostchinesischen Provinz Shandong geflohen war? Wollten die USA so politische Verwicklungen mit China vermeiden?

Eine Wahl, die keine ist

Das bestreitet das US-Außenministerium vehement. Chen habe während seines Aufenthalts in der US-Botschaft "zu keinem Zeitpunkt politisches Asyl in den USA beantragt", teilte Sprecherin Victoria Nuland mit. "Zu jeder Gelegenheit habe er seinen Wunsch zum Ausdruck gebracht, in China zu bleiben, mit seiner Familie wiedervereinigt zu werden, seine Ausbildung fortzusetzen und für Reformen in seinem Land zu arbeiten."

Sie verwahrte sich zudem dagegen, dass US-Vertreter dem blinden Menschenrechtler Drohungen chinesischer Behörden übermittelt hätten, wonach Chens Frau mit körperlichen oder rechtlichen Konsequenzen rechnen müsse, wenn er die Botschaft nicht verlasse. Allerdings hätten US-Beamte Chen von Andeutungen chinesischer Behörden berichtet, dass seine Frau und Kinder nach Shandong zurückgebracht werden sollten - und damit die Möglichkeit verlorengehe, über eine Familienzusammenführung zu verhandeln.

"Die Wahl, vor die er gestellt wurde, war, geh' raus - oder bleibe drin und verliere Frau und Kinder", sagte Bob Fu, Präsident der in den USA angesiedelten ChinaAid Association der Nachrichtenseite Daily Beast. Damit habe der 40-Jährige letztlich keine Wahl gehabt. Auch fürchtete Chen, dass seine Frau in Shandong von physischer Gewalt bedroht wäre. Seine Erfahrungen mit den Behördenvertretern in der Provinz sprächen dafür - eine explizite Drohung sei nicht notwendig gewesen, sagte Chen selbst dem Onlinemagazin.

US-Botschafter Gary Locke bekräftige am Donnerstag jedoch, Chen sei nicht unter Druck gesetzt worden, sondern "aufgeregt und begierig" gewesen, zu gehen.

Als Chen am Mittwoch von der US-Botschaft ins Pekinger Chaoyang-Krankenhaus gebracht wurde, schien er sich tatsächlich zunächst zu freuen. Auf Fotos sieht man Chen lächeln.

Entspannt wirkender Dissident: Chen Guangcheng (Mitte) mit US-Botschafter Gary Locke (rechts) und dem juristischen Berater des US-Außenministeriums, Harold Koh, kurz vor Verlassen der US-Botschaft in Peking am Mittwoch. (Foto: REUTERS)

Doch im Krankenhaus, in dem sein Fuß behandelt werden soll, den er sich während der Flucht gebrochen hatte, scheint seine Stimmung schnell umgeschlagen zu sein: Die Furcht davor, dass die Behörden ihre Zusagen nicht einhalten könnten, wurde offenbar immer größer. Sie kenne Chen Guangcheng seit Jahren, berichtete Daily-Beast-Korrespondentin Liu. In dieser Zeit sei der Dissident Einschüchterungsversuchen, Schlägen, Gefängnis und Hausarrest ausgesetzt gewesen. Doch jetzt habe sie das erste Mal gespürt, dass er Angst habe. "Er weinte, als er mit mir sprach", sagte auch Bob Fu, der ebenfalls mit Chen telefonierte.

Der Grund für den Stimmungsumschwung? In der US-Botschaft habe er nicht alle Informationen gehabt, sagte Chen zu CNN. Erst im Krankenhaus habe er erfahren, welcher massiven Gewalt seine Frau ausgesetzt war, nachdem er aus dem Hausarrest geflohen sei. Zwei Tage lang sei sie an einen Stuhl gebunden und mit Knüppeln bedroht worden.

Beunruhigt zeigte sich Chen auch darüber, dass im Krankenhaus plötzlich alle Vertreter der US-Botschaft verschwunden gewesen seien. Auch telefonisch habe er niemanden erreicht. Zudem wären er und seine Familie Schikanen ausgesetzt gewesen. Seine sechsjährige Tochter habe schon geweint vor Hunger, weil sie trotz vieler Bitten zunächst kein Abendessen bekommen hätten, sagte er Daily Beast. Daher wolle er China nun - entgegen seiner vorherigen Absichten - doch verlassen.

Menschenrechtsorganisationen besorgt

Ob die Vorwürfe Chens berechtigt und tatsächlich keine US-Vertreter mehr bei dem Menschenrechtler gewesen seien, konnte ein Sprecher des US-Außenministeriums nicht mit Sicherheit sagen. Soweit er wisse, seien US-Vertreter im Gebäude gewesen, sagte er am Mittwoch in Washington zu Journalisten. Auf die Frage, welche Garantien die USA für die Sicherheit Chens übernehmen könnten, antwortete er nur indirekt: Man habe versucht, mit den chinesischen Behörden die Ziele Chens durchzusetzen - der ja auf eigenen Wunsch in China bleiben wollte.

Menschenrechtsaktivisten zeigen sich besorgt über das weitere Schicksal Chens. Die Organisation Chinese Human Rights Defenders kritisierte, es seien "keine bedeutsamen Maßnahmen ergriffen" worden, um sicherzustellen, dass sich die chinesischen Behörden an ihren Teil des Tauschhandels halten würden.

Human Rights Watch in China äußerte sich ähnlich: Man habe ernste Bedenken, ob die Regierung in Peking ihre Zugeständnisse einhalten werde, Chen und seine Familienmitglieder nicht zu verfolgen. Chen selbst habe schließlich schon jetzt von ersten Drohungen berichtet.

Die USA wollen sich eigenen Angaben zufolge jedenfalls weiterhin für den blinden Dissidenten einsetzen. "Wir bemühen uns heute herauszufinden, ob sich seine Haltung geändert hat und was er jetzt will", sagte ein US-Regierungsbeamter in Peking. Sobald man ein klares Bild von Chens Zielen habe, "werden wir tun, was wir können, um ihm zu helfen". Doch wie weit diese Unterstützung gehen kann, nun, da Chen die US-Botschaft verlassen hat, dazu wollte sich der Regierungsbeamte nicht äußern.

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