Verhandlungen:Rechnen bis zum Dinner

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Die Gespräche mit den Briten fangen schon nicht gut an. Die Osteuropäer leisten hartnäckig Widerstand. Bis Donald Tusk ein Kompromisspapier vorlegt.

Von Daniel Brössler

Ob die Sache noch irgendwie nach Plan läuft oder schon vollkommen außer Kontrolle geraten ist, ließ sich schon am Morgen nicht recht sagen. "Ich war hier bis fünf Uhr in der Früh", sagte David Cameron, als er nach wenigen Stunden Schlaf wieder vor dem Brüsseler Ratsgebäude erschien, "wir haben einige Fortschritte erzielt, aber es gibt immer noch keinen Deal. Und ich werde nur einen Deal abschließen, wenn Großbritannien bekommt, was es braucht." Sagte es und entschwand.

Jeder bekomme hier sein Drama, und dann werde man sich einigen, hatte die litauische Präsidentin und EU-Kennerin Dalia Grybauskaitė vor Beginn des Gipfels zur Zukunft Großbritanniens in der Union prophezeit. Das zielte vor allem auf Cameron, von dem bekannt war, dass er die Verhandlungen fürs heimische Publikum als "Schlacht für Britannien" würde inszenieren müssen, um im Juni ein Referendum zu gewinnen. Wie viel Drama und wie viel echtes Risiko des Scheiterns in diesem Gipfel steckten, das war die Frage.

Den ganzen Freitag warteten die Staats- und Regierungschefs auf eine Sitzung, die Ratspräsident Donald Tusk immer wieder verschob, um vorher Konflikte auszuräumen. Erst war ein "englisches Frühstück" angekündigt, dann sollte es ein Brunch und schließlich ein Lunch werden. Am späten Nachmittag ließ Tusk mitteilen, man treffe sich um 20 Uhr zum "English dinner".

Es gebe eine gute Nachricht, hatten EU-Beamte nach der ersten Verhandlungsnacht gesagt, und eine schlechte. Gut sei, dass kein neues Problem aufgetaucht sei. Keiner der Staats- und Regierungschefs habe ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert und ein völlig neues Anliegen präsentiert. Die schlechte Nachricht: Alle bekannten Probleme hätten sich als noch schwerer lösbar erwiesen als ohnehin schon befürchtet. Entschlossener als erwartet etwa war der Widerstand, den der belgische Premierminister Charles Michel dem Briten entgegenbrachte. Das im Vertrag von Lissabon verankerte Ziel einer "immer engeren Union der Völker" wollte Michel nicht verwässert sehen. Genau darum aber ging es Cameron. Er wollte eine Zusicherung, dass Großbritannien an dieses Ziel nicht gebunden und die Formel nicht gleichzusetzen ist mit einer Verpflichtung zu mehr politischer Integration.

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(Foto: Francois Lenoir/AP)

Reine Verhandlungssache: Der britische Premier David Cameron redet mit großer Geste auf seinen italienischen Gegenpart Matteo Renzi ein.

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(Foto: Thierry Charlier/AFP)

Ein Gipfel hinterlässt Spuren: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat noch mehr Falten als sonst.

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(Foto: Jan Bartunek/Reuters)

Und Angela Merkel? Spaziert in einer Pause zur berühmten belgischen Frittenbude "Maison Antoine" und bestellt Pommes.

Ratspräsident Donald Tusk versucht es mit dem Beichtstuhlverfahren

Es waren, das musste Cameron ertragen, nicht zuletzt Regierungschefs kleinerer EU-Staaten, die sich ihm in den Weg stellten. Der Tscheche Bohuslav Sobotka bremste als Wortführer von etwa zehn Ländern den Briten in der Frage der Sozialleistungen für Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten. Cameron forderte, dass 13 Jahre lang eine Ausnahmeregelung gelten darf, die es Großbritannien erlauben würde, Neuankömmlinge aus anderen EU-Staaten vier Jahre lang von bestimmten Sozialleistungen auszunehmen. "Viel zu lang", konterte Sobotka. Erst gegen 21.30 Uhr, abends, das Dinner hatte immer noch nicht begonnen, präsentierten Tusk und seine Leute ein Kompromisspapier. Sieben Jahre soll Camerons "Notbremse" demnach greifen dürfen. Streit gab es auch ums Kindergeld. EU-Staaten sollen künftig die Möglichkeit erhalten, Kindergeld-Zahlungen an den Lebensstandard am Wohnort der Kinder anzupassen. Wer etwa in Großbritannien arbeitet und Kinder in Rumänien hat, soll so nur noch ein reduziertes Kindergeld erhalten. Grundsätzlich findet man die Möglichkeit der "Indexierung" auch in der Bundesregierung höchst interessant. Deutschland unterstütze "insbesondere auch die Frage der Indexierung des Kindergeldes ganz besonders", sagte Merkel in ihrer nächtlichen Pressekonferenz. Die Osteuropäer fürchteten genau das - dass das britische Beispiel Schule macht. Nach Tusks Kompromisspapier soll die Indexierung deshalb zunächst nur Großbritannien offen stehen - und erst ab 2020 allen. Ohnehin solle man sich die Indexierung "gut überlegen", warnte der Europaabgeordnete Elmar Brok (CDU), einer der Unterhändler des EU-Parlaments für die Großbritannien-Verhandlungen. Wenn Menschen aus finanziellen Gründen veranlasst würden, ihre Kinder nach Deutschland nachzuholen, könne das unter dem Strich teurer werden. "Es sind alle Körbe der Wünsche und der Forderungen Großbritanniens durchgegangen worden, und es ist sichtbar geworden, dass die Einigung sicherlich vielen nicht ganz leichtfällt, aber dass doch der Wille da ist", hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel schon in der ersten Nacht Befürchtungen gedämpft, die Verhandlungen könnten scheitern. Sie wirkte entspannt dabei. Zum einen, weil sie immer Wert darauf legt, entspannt zu wirken. Zum anderen, weil sie und andere auf dem Gipfel eine ganz ungewohnte Erfahrung machen durften. Im Großbritannien-Gerangel war es einmal nicht die deutsche Bundeskanzlerin, bei der alle Fäden zusammenliefen.

Zwischendurch spazierte sie sogar mit der deutschen Delegation zum Place Jourdan, um dort an der berühmten Frittenbude "Maison Antoine" Pommes zu essen. Derweil trat Frankreichs Präsident François Hollande als Schutzherr der Euro-Zone auf und wehrte sich bei den von Cameron gewünschten Garantien, als Nicht-Euro-Staat nicht benachteiligt zu werden, gegen Zugeständnisse, die dem Finanzplatz London einen Wettbewerbsvorteil verschaffen könnten.

Stunden vor dem Abendessen machte zwar die Kunde die Runde, dass nun doch noch ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert worden sei - vom griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras. Er wolle im Gegenzug für die Zustimmung zum Großbritannien-Deal Garantien, dass die Balkanroute nicht blockiert wird. Doch das sorgte nur für eine kurze Aufregung. Schon beim Aperitif war klar: die Einigung kommt, Tusks Kompromiss trägt. Kurz nach Beginn des Abendessens dann konnte Präsidentin Grybauskaitė per Twitter verkünden: "Drama beendet."

© SZ vom 20.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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