Verfassungsreform in der Türkei:Weniger Macht den Generälen

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Die Verfassungsreform in der Türkei beseitigt das Vermächtnis des Putsches vor 30 Jahren: Datenschutz und Arbeiterrechte werden aufgewertet, die Justiz erhält eine neue Rolle - und die Putschisten könnten belangt werden.

Kai Strittmatter, Istanbul

Nach dem Referendum vom Sonntag werden 26 Artikel der türkischen Verfassung geändert. Hier die wesentlichen Neuerungen.

Militär: Die Putschgeneräle von 1980 verlieren ihre Immunität vor Strafverfolgung und dürfen vor Gericht gestellt werden. Erste Strafanzeigen wurden am Montag schon gestellt, doch ist unklar, ob es wirklich zu Prozessen kommt. Die Macht der Militärjustiz wird beschnitten: Zivilisten dürfen nur noch vor zivile Gerichte gestellt werden; ebenso werden nun Soldaten, die Verstöße gegen die Verfassung begehen, Zivilgerichten überantwortet. Offiziere, die entlassen werden, dürfen künftig Widerspruch einlegen.

Positive Diskriminierung: Der Schutz der Kinderrechte wird garantiert. Fördermaßnahmen für Frauen und Behinderte werden verfassungsrechtlich abgesichert, was ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen soll.

Datenschutz: Der Schutz persönlicher Informationen wird ebenso garantiert wie für jeden Bürger der Zugang zu öffentlichen Akten über seine Person.

Auf der nächsten Seite: Die Rechte der Arbeiter werden gestärkt, die Justiz neu geordnet - und das Parlament bekommt einen Ombudsmann.

Arbeiterrechte: Die Türken dürfen nun Mitglied in mehr als nur einer Gewerkschaft sein. Das Streikrecht für Beamte und öffentliche Angestellte wird ausgeweitet. Politisch motivierte Streiks werden erlaubt.

Ombudsmann: Das türkische Parlament wählt alle vier Jahre einen Ombudsmann, der Bürgerbeschwerden über die Behörden nachgehen soll.

Verfassungsgericht: Die Zahl der Verfassungsrichter wird von 11 auf 17 erhöht. Die Rolle des Parlaments bei ihrer Auswahl wird gestärkt. Erstmals dürfen sich Einzelpersonen mit Verfassungsklagen an das Gericht wenden.

Justiz: Der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) wird neu geordnet. Der HSYK ist eine Hinterlassenschaft des Militärputsches und entscheidet über Ernennung, Versetzung und Entlassung von Richtern und Staatsanwälten, was militärkritische Juristen oft die Karriere kostete. Die Zahl der Mitglieder steigt von 7 auf 22. Wie beim Verfassungsgericht auch verlieren dadurch die Kreise der hohen Justiz an Einfluss, die als besonders erbitterte Gegner von Premier Erdogan gelten. Auch von liberaler Seite kritisiert wird die prominente Rolle, die der Justizminister in dem Gremium künftig spielen soll; man befürchtet eine Aufweichung der Gewaltenteilung.

© SZ vom 14.09.2010/mikö - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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