Venezuela:Parlament gekapert

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Das Militär sperrt Abgeordnete aus. Im Parlamentssaal kommen Vertreter zusammen, die nach Staatspräsident Maduro über allen Staatsorganen stehen.

Von SZ, Caracas

In Venezuela scheint das demokratisch gewählte Parlament endgültig entmachtet zu sein. Militäreinheiten riegelten am Dienstag das Gebäude ab und verweigerten Abgeordneten den Zugang. Anschließend kam die von Staatschef Nicolás Maduro initiierte, so genannte Verfassungsgebende Versammlung in dem Saal zu einer Sitzung zusammen, in dem bisher das von der Opposition dominierte Parlament getagt hatte.

Zuvor hatte die neue Versammlung zwar in dem Gebäude getagt, aber in einem anderen Saal. Der Vizepräsident des Parlaments, Freddy Guevara, äußerte die Sorge, dass das Land vor einer "harten Diktatur" stehe. Abgeordnete berichteten, dass sich Soldaten in der Nacht Zutritt zu den Räumlichkeiten des Parlaments verschafft hätten, damit die Sitzung der Verfassungsversammlung vorbereitet werden konnte. Sie hat als übergeordnetes Staatsorgan das Parlament de facto entmachtet.

Maduro preist das Gremium als "Volksversammlung", doch darin sitzen fast nur linientreue Regierungsanhänger, auch seine Frau und sein Sohn. Die Wahl der 545 Mitglieder war von Betrugsvorwürfen und einem Boykott der Opposition überschattet. Noch am Montag tagte das reguläre Parlament in dem Gebäude. Es erkennt Entscheidungen der Versammlung nicht an. "Diese Regierung dringt in Räume ein, die sie auf legitime Weise nicht gewinnen kann", sagte der Fraktionschef der Opposition, Stalin González.

In Peru trafen sich die Außenminister anderer lateinamerikanischer Länder, um die Situation in Venezuela zu analysieren. Das Regime ist in der Region zunehmend isoliert, nur noch wenige Länder wie Kuba oder Bolivien halten zu Maduro. Chiles Vertreter Heraldo Muñoz sprach davon, dass Venezuela geradewegs in eine Diktatur marschiere. Die Vereinten Nationen erheben schwere Gewalt- und Foltervorwürfe gegen die Regierung von Maduro. Bei den Protesten sei es zu unverhältnismäßiger, systematischer Gewalt gegen Demonstranten gekommen. Beobachter hätten zudem willkürliche Verhaftungen, Folter und gewalttätige Hausdurchsuchungen festgestellt. "Diese Verstöße sind inmitten des Zusammenbruchs der Rechtsstaatlichkeit in Venezuela aufgetreten", sagte UN-Menschenrechtskommissar Said Raad al-Hussein. Seit Ausbruch der Proteste im April starben bereits mehr als 120 Menschen. Nach einer UN-Analyse sind Sicherheitskräfte für zumindest 46 und Pro-Regierungstruppen für 27 Todesopfer verantwortlich. Allerdings geht ein Teil der Gewalt auch von den Oppositionellen aus.

Das Regime missbraucht das Prinzip "Wahrheitskommission", um Gegner zu verfolgen

Maduro hat angekündigt, 500 000 Milizionäre bewaffnen zu lassen. Schlägertrupps auf Motorrädern greifen immer wieder Demonstranten an. Regierungsgegner aus der Politik müssen mit Verfolgung rechnen. Ramón Muchacho, Bürgermeister von Chacao, einem Stadtteil von Caracas, wurde vom Obersten Gerichtshof seines Amtes enthoben und zu 15 Monaten Haft verurteilt. Als Begründung hieß es, Muchacho habe Straßenblockaden und andere Protestaktionen gegen Maduro nicht unterbunden. Chacao ist ein von der Ober- und Mittelschicht geprägter Stadtteil, eine Bastion der Opposition. Muchacho war während der Proteste eines der Gesichter.

Mit großer Sorge wird in den Nachbarländern die Einsetzung einer Pseudo-"Wahrheitskommission" durch die neue verfassungsgebende Versammlung gesehen. Diese soll die Todesfälle bei den Protesten aufarbeiten. Die Präsidentin der Versammlung, Ex-Außenministerin Delcy Rodríguez, hat betont, dass "die Rechte" zur Rechenschaft gezogen werden solle. Die Immunität bisheriger Abgeordneter könnte aufgehoben werden.

© SZ vom 09.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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