Der Papst hat es nicht leicht, heutzutage. Er soll erster Priester sein für mehr als eine Milliarde Katholiken, für die fromme Philippina, den Wallstreet-Broker, den deutschen Professor. Er soll die Freuden und Nöte der Menschen kennen und doch anders sein als die Welt, spirituell und intellektuell, Vertreter einer globalen Moral. Er soll ein guter Chef einer Kirchenbehörde sein, die Bischöfe ernennt und erklärt, was zu glauben ist.
Schließlich ist er der absolute Monarch des kleinsten Staates der Welt, in dem die Errungenschaften des 21. Jahrhunderts und höfisches Bewusstsein nebeneinander stehen. Glaube und Politik, Macht und Geld, Heiliges und Abgründiges: Das alles lebt im Vatikan. Und über allem soll der Papst stehen, als leuchtendes Beispiel des Guten. Der Arme.
Joseph Ratzinger, Benedikt XVI., soll zudem dies alles mit 85 Jahren sein: Brückenbauer zu Gott, Theologe, Politiker, Verwaltungschef, Staatsoberhaupt. Die strukturelle Überforderung würde auch einen Jüngeren an seine Grenzen bringen. Die Begrenzung Benedikts liegt darin, dass er nur einen Teil des Amtes ausübt: Er denkt in seinen Enzykliken über Gott, die Liebe und die Gerechtigkeit nach und schreibt Bücher über Jesus von Nazareth; er investiert seine Energie in die Aufwertung der alten tridentinischen Messe und die Aussöhnung mit den traditionalistischen Piusbrüdern.
Religiöser Anspruch und weltliche Wirklichkeit
Dass sein Amt auch ein politisches Amt ist - das ist dem Papst in den sieben Jahren seines Pontifikats fremd geblieben; die mit dem Amt verbundene Macht unheimlich. Er hat, nach einigen halbherzigen Versuchen einer Kurienreform, die Macht des Amtes delegiert - und in die Hand der falschen Leute gelegt, allen voran in die des so machthungrigen wie überforderten Kardinalstaatssekretärs Tarcisio Bertone, der zum Beispiel jegliche Versuche torpediert, mehr Transparenz in die Vatikan-Finanzen zu bringen.
Religiöser Anspruch und weltliche Wirklichkeit klaffen an der Spitze der größten Glaubensgemeinschaft der Welt zunehmend auseinander: Das ist der Hintergrund, der die Vatileaks-Affäre so brisant macht. Es herrscht Übergangszeit, im Machtvakuum toben die Diadochenkämpfe. Es ist die Zeit der Raben, der corvi, wie sie im Italienischen heißen, die interne Dokumente nach außen tragen, sei es, weil sie diesen Widerspruch nicht mehr aushalten, sei es, weil sie ihre Machtspiele spielen wollen. Ihr Einsatz ist die Zukunft der katholischen Kirche.
Es ist ja nicht so sehr der Inhalt der öffentlich gewordenen Dokumente erschütternd. Da ärgert sich der Papst über Angela Merkel oder bekommt den Rat, lieber nichts zu den Affären des Silvio Berlusconi zu sagen, da bittet einer um eine Privataudienz, und der 10.000-Euro-Scheck liegt dabei: Es ist peinlich, wenn das herauskommt.
Es ist schlimmer als peinlich, wenn sich zeigt, dass die sexuellen Gewalttaten des Gründers der "Legionäre Christi" schon 2003 hätten bekannt sein können. Die Mauern des Vatikans bringt das aber nicht zum Einsturz.
Und doch ist da ein Riss in der Mauer, der das Dunkle auf der anderen Seite schemenhaft erhellt. Paolo Gabriele, der nun ehemalige Kammerdiener des Papstes, bei dem man kistenweise Dokumente fand, ist ein schlichtes und tieffrommes Gemüt; Menschen, die ihn kennen, bezweifeln, dass er aus eigenem Antrieb handelte, gar aus Geldgier - und auch, dass er ein Einzeltäter sein soll.
Es stehen zu offensichtlich Kardinalstaatssekretär Bertone und Georg Gänswein, der mächtige Sekretär des Papstes, im Zentrum der Enthüllungen, als dass da einer einfach die gruseligsten Dokumente, an die er kommen konnte, verhökert hätte. Hier hatte einer Absichten.
Nur wer hatte welche Absicht? Wollten die Gegner Bertones und Gänsweins den beiden schaden, zum Beispiel aus dem Umfeld des ehemaligen Kardinalstaatssekretärs Angelo Sodano, der unter Papst Johannes Paul II. in Konkurrenz zu Ratzinger und Bertone stand? Oder gar jemand aus dem Umfeld Gänsweins oder Bertones die anderen in Verdacht bringen?
Rituale einer höfischen Kultur
Zu höfischen Kulturen gehört es, dass solchen Spekulationen fast keine Grenzen gesetzt sind. Es wird offenbar erst jetzt im Vatikan um das Erbe des 26 Jahre währenden Pontifikats von Johannes Paul II. gestritten, um den interreligiösen Dialog, die Entschuldigung für die Verfehlungen der Kirche.
Vielen in der Kurie ging das schon damals zu weit; Papst Benedikt hat diese Dinge nicht weitergetrieben, er hat das Rad aber auch nicht zurückgedreht. Was wird der nächste Papst tun? Vor allem die italienischen Kardinäle gehen davon aus, dass einer der Ihren dieser nächste Papst sein wird. Auch das lässt in Rom die Raben fliegen.
Das ist tragisch für den so integren wie weltfremden und zunehmend müden Papst Benedikt XVI., das ist vor allem tragisch für die katholische Kirche insgesamt. Sie müsste nach den Missbrauchs-Skandalen um neue Glaubwürdigkeit ringen und alles Höfische ablegen. Sie müsste Antworten finden auf die zunehmend religiös aufgeladenen Konflikte der Welt. Sie müsste eine Gott und den Menschen dienende Kirche werden; stattdessen wird sie zum Objekt der Hof-Astrologie, vertieft sich der Graben zwischen Hierarchie und Gottesvolk. Vielleicht muss die Krise noch größer werden, bevor die Umkehr möglich ist.