US-Gefangenenlager Guantánamo:Verloren in Amerikas "Gulag"

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Mitte April demonstrierten Verwandte von Guantanamo-Gefangenen im Jemen für das Rückkehrrecht der Insassen in ihre Heimat.  (Foto: dpa)

Der Hungerstreik im US-Gefangenenlager Guantánamo weitet sich aus: 92 der 166 Häftlinge verweigern die Nahrungsaufnahme, ein Anwalt erhebt Vorwürfe gegen das Wachpersonal. Die Obama-Regierung indes hat sich offenbar damit abgefunden, das Gefängnis auf Kuba noch auf Jahre hinaus zu betreiben.

Von Johannes Kuhn

Vier Jahre, drei Monate und vier Tage: Ein Zeitraum, in dem viel passieren kann. Oder auch wenig. Äußerst wenig. Am 21. Januar 2009 unterzeichnete der frisch vereidigte US-Präsident Barack Obama einen Erlass, der die Schließung des amerikanischen Militärgefängnisses in Guantánamo Bay innerhalb von zwölf Monaten in die Wege leiten sollte. Vier Jahre, drei Monate und vier Tage später existiert der umstrittene Hochsicherheitsbau noch immer - und die Lage ist katastrophal.

Inzwischen befinden sich dort 92 der 166 Insassen im Hungerstreik, das sind nochmal 25 mehr als am vergangenen Samstag. 17 Menschen würden gerade zwangsernährt, teilte ein Militärsprecher mit. Einige Häftlinge verweigern bereits seit Februar die Nahrungsaufnahme, nachdem Wärter bei Zellendurchsuchungen den Koran in ihren Augen "unwürdig behandelt" hätten. Am 13. April war es außerdem zu Ausschreitungen zwischen Aufsehern und Gefangenen gekommen, als 60 Häftlinge in Einzelzellen verlegt worden waren, weil sie die Sicherheitskameras der Gemeinschaftsunterkünfte verhüllt hatten.

Der eigentliche Auslöser für den Aufstand, so betonen die Anwälte der Häftlinge immer wieder, sei jedoch die pure Verzweiflung über ein menschenunwürdiges Leben in der Schwebe: Bereits seit längerem gibt es keine Freilassungen oder Transfers in andere Länder mehr, obwohl 86 der Gefangenen offiziell von jedem Schuldvorwurf entlastet worden sind.

Viele andere Gefangene warten weiterhin auf eine offizielle Anklage, die womöglich niemals erhoben wird. "Es ist kein Ende unserer Haft in Sicht", schilderte der im Hungerstreik befindliche Gefangene Samir Naji al Hasan Moqbel vor kurzem in der New York Times die Stimmung, "Wir haben uns entschieden, nicht zu essen und damit jeden Tag den Tod zu riskieren", heißt es in dem Bericht, der nach einem Telefonat mit seinen Anwälten entstand.

In Washington schiebt die demokratische Regierung den Republikanern im Kongress die Schuld für die Misere zu. Diese lehnen eine Freilassung der Guantánamo-Insassen in der Mehrzahl ebenso ab wie Verfahren vor regulären Gerichten auf amerikanischem Boden. Letzteres war der ursprüngliche Plan Obamas gewesen, den der US-Präsident aber ebenso wie die Schließung schnell verwarf.

"Schlimmer als jeder Todestrakt"

Im Januar unterzeichnete Obama das Gesetz für den aktuellen Verteidigungshaushalt, das den Transfer von Guantánamo-Insassen in Heimatländer wie Jemen und Saudi-Arabien praktisch ausschließt. Eine ähnliche Regel hatte der US-Präsident bereits 2011 akzeptiert, wenn auch unter dem Vorbehalt, sich darüber hinwegzusetzen. Geschehen ist das jedoch nicht, im Gegenteil: Vor drei Monaten veranlasste die US-Regierung die Schließung der Abteilung im Außenministerium, die für die Überstellung unschuldiger Gefangener in andere Länder zuständig ist.

Einem Teil der Freigelassenen droht in ihren Heimatländern Gefängnis, andere könnten sich Terrororganisationen anschließen, so zumindest das offizielle Argument in Washington: Geheimdienst-Statistiken zufolge schlossen sich 16 Prozent aller Freigelassenen bewaffneten Gruppen an.

Diese Quote genügt der Obama-Regierung, um 30 Häftlingen offiziell als unschuldig geltender Jemeniten bis auf weiteres die Rückkehr in ihr instabiles Heimatland zu verwehren. Eine Überstellung in die USA steht parteiübergreifend außer Frage, die meisten westlichen Verbündeten wollen ebenfalls keine ehemaligen Guantánamo-Insassen aufnehmen.

"Das US-Militär mag noch so viel Nonsens erzählen: Guantánamo ist schlimmer als jeder Todestrakt", erklärte der Anwalt Clive Stafford Smith, der 15 Gefangene vertritt, in einem Reuters-Interview. Er wirft den Wärtern unter anderem vor, Gefangene zu schlagen und vergleicht das Gefängnis mit einem Gulag, einem Straflager der ehemaligen UdSSR.

Folter nach internationalem Recht?

Die Autoren eines 577 Seiten langen Berichts des als unabhängig geltenden Think Tanks "The Constitution Project" kommen zu der Schlussfolgerung, dass die Verhältnisse im Lager zwar nicht mehr mit denen zur Zeit der Bush-Regierung vergleichbar seien. Dennoch sind die Experten überzeugt, dass die unbeschränkte Gefangenschaft sowie einzelne Methoden wie das Zwangsfüttern von Häftlingen im Hungerstreik nach internationalem Recht als Folter gelten könnten.

Weil das Gefängnis inzwischen marode ist, hat das Pentagon für dieses Jahr Reparaturarbeiten in Höhe von 150 Millionen Dollar veranschlagt, zusätzlich zu den jährlichen Betriebskosten von 114 Millionen Dollar.

Während man sich in Washington offenbar darauf einstellt, das Lager Guantánamo Bay noch auf Jahre hinaus zu betreiben, setzen die Hungerstreikenden alles aufs Spiel: "Sie sind noch nicht fertig und sie werden nicht aufhören, bis es mehr als einen Toten gibt", zitiert die New York Times einen muslimischen Militärberater. Das Einzige, was die Gefangenen beruhigen könne, sei eine Freilassung.

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