Urteil zum Lissabon-Vertrag:Deutschland auf dem Sonderweg

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Kein Grund zum Jubeln: Das Urteil aus Karlsruhe ist vielmehr ein Ausdruck der Furcht der Richter, sich dem Europäischen Gerichtshof unterwerfen zu müssen. Und es wirft die Frage auf: Haben es die Deutschen mit Europa je ernst gemeint?

Alfred Grosser

Der 30. Juni 2009 wird in die Geschichte Europas als ein schwarzer Tag eingehen. Nicht nur wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Auch wegen der Zeitungskommentare, die zeigen, wie weit das Unwissen über die EU (und daraus folgend: ihre Herabsetzung) in Deutschland nun geht.

Verkündung des Urteils zum Lissabon-Vertrag in Karlsruhe: Ein Ausdruck der Furcht des Verfassungsgerichts, sich dem Europäischen Gerichtshof unterwerfen zu müssen (Foto: Foto: AP)

Das Bundesverfassungsgericht lebt und entscheidet in der Furcht, sich dem Europäischen Gerichtshof unterwerfen zu müssen. Das Urteil vom 30. Juni ist ein Ausdruck dieser Furcht. Seit einiger Zeit hat das Karlsruher Gericht ohnehin den Sinn für Zurückhaltung verloren. 1977 verwarf es noch die Klage der Gattin von Hanns Martin Schleyer. Begründung: Die Entscheidung, seinen Entführern nicht nachzugeben, sei politisch - und daher nicht juristisch zu bewerten.

Heute hingegen gilt gemäß Karlsruhe, dass kein Flugzeug abgeschossen werden darf, auch wenn dieses als Waffe gegen eine Stadt oder einen Atomreaktor eingesetzt werden sollte. Und manche Richter schreiben lange Zeitungsartikel über Themen, über sie dann später im Gericht zu entscheiden haben.

Juristisches Wesen eigener Art

In Frankreich hingegen haben alle hohen Gerichte klar betont, dass Europarecht jeweils Vorrang vor nationalem Recht hat. Auch ist nun festgelegt, dass unser Parlament klagen darf, wenn es glaubt, eine europäische Regelung verstoße gegen das Subsidiaritätsprinzip, also gegen die Regel, dass eine staatliche Aufgabe von der jeweils unteren Ebene erledigt werden soll - allerdings ist eine solche Klage beim Europäischen Gerichtshof einzureichen!

Merkwürdig ist die Grundauffassung des Bundesverfassungsgerichts und der meisten Kommentatoren, auch oder gerade wenn sie selbst ehemalige Karlsruher Richter sind. Die ganze Debatte um "Staatenbund oder Bundesstaat" verkennt, dass die EU ein juristisches Wesen eigener Art ist.

Sie ist noch nicht einmal ein Staatenbund, dennoch aber mehr zentralisiert als mancher Bundesstaat, wie die Schweiz oder die USA. Zu einem Staatenbund gehört eine gemeinsame Verteidigungspolitik. Im Gegensatz zu dem, was der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof schreibt, ist die EU davon noch weit entfernt.

Auf der nächsten Seite: Die wichtigsten Instrumente der EU werden in Karlsruhe gern ignoriert. Deutschland gerät unter Verdacht, es mit Europa nicht ernst zu meinen.

Der Lissabon-Vertrag sagt bloß, es solle eine "schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik" geben, die später "zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte". Die Nato-Verpflichtungen demgegenüber sind strenger! Ein Beispiel für die Zentralisierung wiederum ist die gemeinsame Währung von 22 der 27 EU-Mitgliedsländer. Die D-Mark ist im Euro aufgegangen, die Bundesbank der Europäischen Zentralbank untergeordnet.

Alfred Grosser wurde 1925 in Frankfurt geboren, emigrierte 1933 nach Frankreich und ist seit 1937 französischer Staatsbürger. Er ist emeritierter Professor am Institut d'études politiques in Paris. (Foto: Foto: ddp)

Überhaupt wird in Karlsruhe und in der Presse gern ignoriert, welchen Charakters die beiden wichtigsten Instrumente sind, mit denen die EU das Leben in den Mitgliedsländern regelt: Verordnungen und Richtlinien.

Eine Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat. Eine Richtlinie hingegen ist zwar verbindlich hinsichtlich ihres Ziels. Sie überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Mittel.

Mitwirkung stetig erweitert

Es stimmt zwar, dass viele dieser Verordnungen und Richtlinien undemokratisch entstanden sind, einfach dadurch, dass der Europäische Rat - das Gremium der 27 nationalen Regierungen - zugleich Exekutive und gesetzgebende Institution ist. Aber die Erweiterung der Mehrheitsabstimmungen auf insgesamt 40 Politikfelder beschränkt das Vetorecht einzelner Staaten - erhöht also die Demokratie. Und noch mit jeder EU-Reform ist das Europäische Parlament gestärkt, seine Mitwirkung an der Gesetzgebung erweitert worden.

Die Legitimation dieses Parlaments wird jedoch heute in Deutschland ebenfalls pauschal bestritten. Zu Unrecht. Erstens verkennt diese Haltung, dass die EU nicht Staaten vereint, sondern Völker. "Die Grundlage für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker schaffen", lautet die Formel in den Römischen Verträgen von 1957.

Zweitens gibt es eine Unionsbürgerschaft, die die nationale Staatsbürgerschaft ergänzt (nicht aber ersetzt). Und hinzufügen muss man: Die Legitimation des Straßburg-Brüsseler Parlaments wäre in Deutschland gewiss höher, wenn Regierungen, Parteien und Medien es nicht stets vernachlässigt und die gute Arbeit der deutschen Europa-Abgeordneten nicht verschwiegen hätten.

Alle dürfen zuladen

Was nun in Deutschland gefordert wird, ist die strikte Begrenzung der Befugnisse der Bundesregierung im Europäischen Rat. Bundestag und Bundesrat müssten entscheiden, wie die Regierung abstimmen soll. In einem Leitartikel der SZ heißt es mit Genuss: "Man muss sich die Dinge so vorstellen: In Brüssel startet ein Güterzug, hat freie Fahrt; wenn er durch Deutschland fährt, gibt es Haltepunkte, an denen das Parlament zuladen kann." Und wenn er durch Griechenland, Rumänien, Lettland fährt?

Weil alle Staaten gleich sind, dürfen alle zuladen, das heißt, dass ständig 27 Parlamente befasst werden müssten. Die Schwierigkeiten, den Lissabon-Vertrag EU-weit durchzusetzen, zeigt: Mit solchen Zuladungen würde die EU zerstört.

Ist das gewollt? Zweimal war Europa für Deutschland besonders hilfreich. Das Bundesverfassungsgericht zitiert die Präambel des Grundgesetzes, in der die Bundesrepublik darauf verpflichtet wird, " als gleichberechtigtes Mitglied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Für Adenauer war Europa, auch als supranationales Gebilde, ein Weg, die Gleichberechtigung einer Bundesrepublik zu erreichen, die weder nach außen noch nach innen souverän war. Aber er glaubte auch an den Wert eines vereinten Europas.

Deutschland als Bremse?

Am 20. Dezember 1990 sagte Willy Brandt als Alterspräsident des Bundestags, ohne die Europäische Gemeinschaft hätte die Wiedervereinigung nicht so leicht geklappt - und in diesem Sinn sei Jean Monnet, der Vater der Europäischen Gemeinschaft, einer der Väter der deutschen Einheit.

Bis zur deutschen Ratspräsidentschaft 2007, die Bundeskanzlerin Angela Merkel umsichtig, nüchtern und im Ganzen hervorragend absolvierte, konnte man glauben, dass die Bundesrepublik der Motor der europäischen Einigung sei. Ist sie nun zur Bremse geworden, weil ihre nationalen Ziele erreicht sind? Wie kann man in Deutschland verständlich machen, was das Karlsruher Urteil und die Kommentare dazu bedeuten?

Sie bedeuten, dass all diejenigen in Frankreich, die seit mehr als 60 Jahren für die deutsch-französische Zusammenarbeit werben und wirken, sich nun Gegnern erwehren müssen, die sagen: Die Deutschen haben es doch mit Europa nie ernst gemeint.

© SZ vom 11.07.2009/mikö - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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