Die Unruhen mögen blutiger werden, den Gottesstaat zu Fall bringen werden sie kaum. Nachhaltig erschüttern dürften die landesweiten Proteste Iran mit seinen 80 Millionen Einwohnern aber doch. Und wie tief diese Erschütterung am Ende dann gehen wird, darüber entscheidet maßgeblich der Mann, der im Herrschaftssystem der Islamischen Republik ganz, ganz oben steht und dem inzwischen die Wutparolen der Demonstranten auch persönlich gelten: der geistliche Führer, Ayatollah Ali Chamenei.
Das Image eines graugesichtigen Langweilers, eines Mannes aus der zweiten Reihe, ist der schiitische Geistliche nie ganz losgeworden; er bleibt bis heute blass im Vergleich zum visionären, charismatischen, entschlossen-brutalen Vater der Mullah-Revolution, Ayatollah Ruhollah Chomeini. Trotzdem hat der heute 78-jährige Chamenei entscheidend dazu beigetragen, dass die Pfauenthron-Monarchie Anfang 1979 gestürzt wurde und der schiitische Gottesstaat seit 30 Jahren seine unzähligen existenziellen Krisen überstand.
Chamenei wurde gefoltert, war im Gefängnis und im Exil
Der Geistliche aus der heiligen Stadt Maschad hat sein Land durch die Islamische Revolution, den achtjährigen Krieg gegen Saddam Husseins Irak, internationale Isolation und Sanktionen, die Atomverhandlungen und durch kleinere und größere Volksaufstände mit gesteuert oder selbst geführt. Er war seit den 60er-Jahren einer der Strippenzieher des Widerstands gegen den Schah, sein theologisch-politisches Vorbild Chomeini lebte da noch im Exil, in der Türkei, im Irak, in Frankreich. Unter dem Kaiser bezahlte Chamenei für seine Treue zu dem feuerköpfigen Revolutionär mit Folter, Gefängnis und Exil.
Später, nach der Revolution, wurde er bei einem Attentat schwer verletzt, sein Überleben überzeugte ihn davon, "dass Gott mich für schwere Aufgaben aufgespart hat". Der "lebende Märtyrer" - so nannten ihn viele Gläubige nun - kam bei all dem immer weiter nach oben: Parlamentarier, Vize-Verteidigungsminister, oberster Sittenwächter und religiöses Oberhaupt von Teheran. 1981 Staatspräsident und 1989, nach Chomeinis Tod und auf dessen Wunsch, Revolutionsführer.
Er sieht in den Aufständischen Marionetten des Westens
Chamenei, Vater von sechs Kindern, entstammt einer Familie von Geistlichen, sein Urgroßvater wurde als Aufrührer getötet. Die Religion studierte er im Irak, dem Mutterland des Schiitentums. Theologisch hat er es bis zum Ayatollah gebracht, doch da war weniger theologische Kenntnis als Patronage im Spiel; den hoch angesehenen Ehrentitel Marja, also Ober-Ayatollah, verweigerten ihm seine gebildeteren Kollegen sogar noch erfolgreich, als er schon ganz oben angekommen war.
Chamenei, der an Prostatakrebs leiden soll, ist ein islamistischer Hardliner, Anti-Westler und Verschwörungstheoretiker. Milde zeigen wird er den Aufständischen gegenüber kaum, er sieht in ihnen Marionetten der Amerikaner, Briten, Israelis und seiner muslimischen Todfeinde, der Saudis. Er ist aber auch Pragmatiker. Wenn er - in Teilen - einlenken sollte, dann weil selbst der Revolutionsführer kein unumschränkter Herrscher ist: Er muss die widerstreitenden Machtzentren des Systems permanent ausbalancieren.
Entschlossene Reformen wird es mit Chamenei nicht geben
Da sind die konservativen Geistlichen und Revolutionäre der ersten Stunde, da gibt es aber auch die mächtigen Revolutionsgardisten, die die Wirtschaft beherrschen. Mal melden sich die geschwächten Reformer wieder zu Wort, mal verteidigen Geschäftsleute ihren Platz am Trog, mal kämpfen Provinzfürsten gegen die Hauptstadt. Bei all dem gilt es, die Ethnien im Vielvölkerstaat ruhig zu halten und gegeneinander auszuspielen.
So oder so, entschlossene Reformen sind unter einem Chamenei so gut wie ausgeschlossen. Das hat er 2009 gezeigt: Er hat seine Hand ungerührt darüber gehalten, dass die Hardliner die "Grüne Bewegung" niedergeschlagen und der Reformbewegung den Hals gebrochen haben. Dieser Mann wird auch jetzt keinen Widerspruch dulden.