Ungarn:Kein Entkommen

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Im Sommer 2015 sterben in einem Kühllaster 71 Flüchtlinge. Österreichische Polizisten finden die Leichen am Autobahnrand. Nun beginnt der Prozess in Ungarn - und er gibt Einblick in das grausame Geschäft der Schlepperbanden.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Es dauerte eine Weile, bis die Verhandlung unter dem Vorsitz von Richter Janos Jadi am Mittwochmorgen überhaupt beginnen konnte - der Andrang war zu groß. Bei dem mit Spannung erwarteten Prozess in der südungarischen Stadt Kecskemét steht eine Gruppe Männer vor Gericht, denen vorgeworfen wird, im August 2015 einen Lastwagen mit Flüchtlingen über die Grenze in das österreichische Parndorf gefahren und dort abgestellt zu haben. In dem Lkw wurden kurz darauf 71 Leichen gefunden. Die Schlepper sind des Mordes angeklagt, weil sie die Flüchtlinge ohne Sauerstoffzufuhr transportierten und damit in den sicheren Tod fuhren.

Weil das Medieninteresse an dem Fall, der weltweit Schlagzeilen gemacht hatte, besonders groß war, mussten am Vormittag erst einmal organisatorische Probleme bewältigt und der Streit um Sitzplätze für die Zuhörer gelöst werden. Dann beschwerte sich einer der vier Hauptangeklagten, ein Afghane, den die Ermittler als Kopf der Schlepperbande ausmachten, ausführlich über die seiner Meinung nach schlechte Übersetzung in seine Muttersprache Paschtu. Außer dem Afghanen sind drei Bulgaren des Mordes angeklagt, darunter auch der Stellvertreter des Bandenchefs, der Fahrer des Lkw und sein Beifahrer. Sechs weitere Bulgaren und ein Libanese sollen wegen Menschenhandels verurteilt werden; sechs von ihnen stehen in Kecskemét vor Gericht, einer ist noch flüchtig. Gegen ihn wird in Abwesenheit verhandelt.

Es gab keine Lüftung, keine Fenster, keine Innenbeleuchtung, keine Sitzgelegenheit

Der Fall löste weltweit große Erschütterung aus, weil die 71 Toten von Parndorf als Fanal für die Leiden der Flüchtlinge, aber auch als Symbol für das Verbrechen der skrupellosen Schlepperei galten, bei dem Millionengewinne gemacht werden, während das Leben von Menschen aufs Spiel gesetzt wird. Die Bande war von der ungarischen Polizei schon Wochen vor der Todesfahrt beobachtet und teilweise auch überwacht worden. Bei Aufnahmen aus der Fahrerkabine war auf der letzten Fahrt vor der Festnahme der mutmaßlichen Täter zu hören gewesen, dass sowohl Fahrern als auch Hintermännern die Lebensgefahr, in der sich die Menschen auf der Ladefläche befanden, bewusst war. Aus Angst vor der Entdeckung wurde der Tod der 71 Menschen, die mit Schreien und Klopfzeichen um Hilfe riefen, billigend in Kauf genommen.

Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten außerdem vor, noch am Tag der Entdeckung des Todes-Lkws einen weiteren Kühllaster mit 67 Flüchtlingen losgeschickt zu haben. Die Opfer konnten sich im burgenländischen Gols aus dem zugesperrten Laderaum des abgestellten Lkws selbst befreien.

Die eigentliche Verhandlung begann mit der Verlesung der Anklageschrift. Darin heißt es, anfangs habe die Bande 20 bis 40 Migranten pro Auto quer durch Europa geschleppt. Aufgrund des hohen Drucks durch die Hintermänner seien aber immer häufiger Fahrzeuge mit mehr Fassungsvermögen besorgt worden. Am Ende seien es dann bisweilen bis zu 100 Flüchtlinge gewesen, die mit nur einem Transport nach Westeuropa gebracht wurden. Diese Fahrten seien zur Qual für die Geschleppten geworden, so die Staatsanwaltschaft.

In der Nacht auf den 26. August 2015 wurde der Lkw eingesetzt, an dem die Werbung eines Hühnerfleischproduzenten angebracht war. In einem Waldstück bei Mórahalom warteten Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, Iran und Afghanistan darauf, in den Westen gebracht zu werden. Einer der Bulgaren fuhr den Lastwagen, während ein zweiter mit eigenem Auto unterwegs war, um die Lage zu sondieren. Die beiden Bandenbosse fungierten als Aufpasser und begleiteten den Transport zum Teil mit ihren eigenen Fahrzeugen. Die 71 Menschen wurden auf eine 14,26 Quadratmeter große Ladefläche gepfercht, die eigentlich für Kühlware gedacht war. Es gab keine Lüftung, keine Fenster, keine Beleuchtung, keine Sitzgelegenheit und keine Haltegriffe. Die Tür war nur von außen zu öffnen. Der Wagen war eine Todesfalle.

© SZ vom 22.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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