Der Reichsminister war sehr unzufrieden. Bei seinem Besuch im KZ Mauthausen am 30. März 1943 sah er Baracken aus Naturstein für die Häftlinge, "alles sehr sauber und ordentlich". Sogleich beschwerte er sich bei Heinrich Himmler: "Wir müssen für den Ausbau von Konzentrationslagern eine neue Planung unter dem Gesichtspunkt des höchsten Wirkungsgrades bei Einsatz geringster Mittel zur Erzielung des größten Erfolges für die augenblicklichen Rüstungsforderungen durchführen, das heißt, dass wir sofort zur Primitivbauweise übergehen müssen." Es ging jetzt - nach der Niederlage der Wehrmacht bei Stalingrad - darum, alle vorhandenen Arbeitskräfte für den Krieg zu mobilisieren und keine Ressourcen zu verschwenden. Im Jahr zuvor hatte der Minister "die Vergrößerung des Barackenlagers Auschwitz" genehmigt und ein Bauvolumen von 13,7 Millionen Reichsmark bereitgestellt, "um die vorhandene Arbeitskraft nunmehr für Rüstungsaufgaben von Großformat" einzusetzen.
Dieser Minister jedoch, so stellte sich nach 1945 heraus, wollte vom KZ-System und dem dort verübten industriellen Massenmord gar nichts gewusst haben. In seinen "Erinnerungen" schreibt er: "Zwölf Jahre hatte ich im Grunde gedankenlos unter Mördern gelebt." Und die Deutschen glaubten ihm gern, viele konnten sich in dieser Erzählung wiedererkennen. Sie lasen hier von einem Dritten Reich ohne Rassepolitik, ohne Vernichtungskrieg und ohne Judenverfolgung. Das machte die Sache doch irgendwie erträglicher.
Dabei war Albert Speer (1905 - 1981) der größte Märchenerzähler über die NS-Zeit.
Magnus Brechtken hat seine lange erwartete Speer-Biografie mit dem Untertitel "Eine deutsche Karriere" versehen, nicht nur, weil Hitlers Architekt nach seiner Haftzeit eine fragwürdige zweite Laufbahn als extrem beliebter Zeitzeuge begann, sondern weil er hier den "Typus des bürgerlichen Deutschen, der bewusst zum Nationalsozialisten wurde und nach 1945 nicht den Willen und die Einsicht hatte, sich über seine Taten eine ehrliche Rechenschaft zu geben", beschreiben will. Die zentrale These lautet: Speers Karriere war repräsentativ. "Speer ragte heraus und ist doch zugleich exemplarisch für all jene, die sich mit ähnlichen, wenngleich bescheideneren Ambitionen so wie er für den Nationalsozialismus engagierten, ihn trugen und gestalteten." Brechtken, stellvertretender Direktor am Münchner Institut für Zeitgeschichte, hat mehr als zehn Jahre an dem Thema geforscht und sich viel vorgenommen: Speer-Biografie, Betrachtung der manipulativen Macht politischer Memoiren, Analyse der Nachkriegsgesellschaft und eine zum Teil sehr harte Abrechnung mit der eigenen Zunft. Und das alles in einer schwungvollen Darbietung.
Über Jahrzehnte hinweg, auch lange nach seinem Tod im Jahr 1981, war Albert Speer für die meisten Deutschen ein ganz und gar unpolitischer Techniker und Architekt, ein Fachmann, der die Rüstung auf Vordermann brachte, und der sich in den Nürnberger Prozessen als Einziger zu einer Art Gesamtverantwortung für die Verbrechen des NS-Staates bekannt hatte. Für einige war er nicht mal ein richtiger Nazi.
Speer als reuiger Sünder, Speer als verführter Bürger, Speer als Planer eines Attentats auf Hitler, Speer als Nichtsahnender - all diese Legenden gehen auf ihn selbst zurück. Das Bild von sich, das er in seinen Millionenbestsellern "Erinnerungen" (1969) und den "Spandauer Tagebüchern" (1975) zeichnete, beherrschte die öffentliche Meinung. Noch heute verkaufen sich diese Memoiren gut. Brechtkens großes Verdienst ist die Dekonstruktion dieser Lügengebäude.
Der Münchner Historiker fasst im ersten Teil die Taten und Untaten Speers brillant zusammen und kontrastiert sie zugleich mit den späteren Legenden. Die bewusste Entscheidung, sich im Nationalsozialismus zu engagieren, sein ehrgeiziges Streben nach Machterweiterung, seine enge Zusammenarbeit mit Himmler und Joseph Goebbels, seine Nähe zu Adolf Hitler, sein "unermüdlicher Einsatz zur Aufrechterhaltung der Rüstungsproduktion", etwa durch den Einsatz Zehntausender Sklavenarbeiter in unterirdischen Produktionsstätten wie Mittelbau-Dora, seine Durchhaltereden und seine "Propagandafiktionen von Rüstungsrekorden und Wunderwaffen". Dazu wurden unter anderem auch selten beachtete Quellen wie die Zeitschrift Der Frontarbeiter und die PR-Illustrierte Signal ausgewertet, die Speer als fürsorglichen zivilen Manager präsentierten, der gleichwohl für die völkische Sache und neuen "Lebensraum" agitierte. Auf wenigen Seiten wird die Legende vom "Rüstungswunder" entzaubert, die Erfindung vom geplanten Attentat auf Hitler bloßgelegt und die wahre Rolle Speers bei der Verlängerung des Krieges herausgestellt. Kurzum: Speer agierte als eine "Zentralfigur des Eroberungs- und Vernichtungskrieges".
Ein Manko ist allerdings, dass bei Brechtken immer nur der "offizielle" Speer auftritt, also Dokumente im Zusammenhang mit seinen Taten oder Selbststilisierungen - fast nie aber der private. Über die Motive für sein Handeln, etwa den Beitritt zur NSDAP 1931, oder die Beweggründe für seine späteren Märchenstunden, erfährt der Leser außer ein paar eher spekulativen Andeutungen nichts. Auch das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik im Umgang mit dem Dritten Reich wird eher skizziert als genau beschrieben.
Am schärfsten geht Brechtken mit Joachim C. Fest und Wolf Jobst Siedler ins Gericht
Fast die Hälfte des Buches verwendet Brechtken darauf, detailliert nachzuweisen, auf welchen Wegen es Speer gelang, mit seiner Selbststilisierung die deutsche Nachkriegsgesellschaft zu täuschen und seinen wahren Beitrag zu den Verbrechen des Nationalsozialismus zu verschleiern. So hatte Speer nicht nur gute Freunde und Bekannte, die belastendes Material verschwinden lassen konnten, und während seiner 20 Jahre dauernden Haftzeit auch zahllose Fürsprecher, die sich (vergeblich) für eine Verkürzung der Strafe aussprachen. Vor allem hatte er ein bereitwilliges Publikum, das gerne glauben wollte, was er ihm zu erzählen hatte - und durchaus unkritische Medien, die es gar nicht so genau nahmen mit der Wahrheit. Und nicht zuletzt hatte Speer bei der Abfassung seiner "Erinnerungen" zwei Mitstreiter, deren Rolle laut Brechtken gar nicht überschätzt werden kann: den Verleger Wolf Jobst Siedler (damals Ullstein Propyläen) und als eine Art Mitkomponisten den Publizisten Joachim C. Fest.
Wie ein "Geschenk der Götter" sei ihm Speer "ins Haus geschneit", erzählte Fest später - und so begann eine Zusammenarbeit, die das Bild des einstigen Rüstungsministers in der Öffentlichkeit entscheidend prägen sollte. Brechtkens Urteil über dieses Dreierbündnis ist hart, teilweise polemisch, aber gut belegt. Die "Erinnerungen" nennt er ein Gemeinschaftsprodukt: Speer lieferte das Material, Siedler und Fest besorgten die Komposition. Ihr Ziel: "Speer als Repräsentanten des deutschen Bürgertums zu porträtieren, der aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten zwar Karriere im Dienste Hitlers gemacht, aber mit dem Nationalsozialismus, wie sie ihn gesehen wissen wollten, nichts zu tun hatte." Siedler, so Brechtken, hoffte auf eine Geschichte, die den Erwartungen des Publikums entsprach (der Erfolg gab ihm recht). Fest hoffte auf ein paar schöne "Originalzitate" für seine Hitler-Biografie (1973), die dann auch stark vom Zeitzeugen Speer geprägt war. "Erheblichen Einfluss" auf Speers Text attestiert Brechtken den beiden Freunden und die "Steuerung bestimmter Themen"; Fest leistete "konkrete Hilfe zum eloquenteren Ausmalen des Täuschungsbildes". Und vor allem: Es sei aus der Überlieferung nicht erkennbar, dass Fest oder Siedler die Behauptungen Speers durch eigene Recherchen geprüft hätten. Beihilfe zur Geschichtsklitterung lautet also der Vorwurf.
Auch im weiteren Verlauf gerät Fest immer wieder in den Fokus scharfer Kritik, etwa mit seiner Speer-Biografie (1999), die Brechtken eine "Verharmlosungsgeschichte" nennt, in der der Mitherausgeber der FAZ einen "beinahe autistisch wirkenden Drang, sein Speer-Bild zu verteidigen" an den Tag gelegt habe - inzwischen längst bekannte Fakten kalt ignorierend.
Wie ein roter Faden zieht sich auch die Kritik am "langwährenden Unvermögen der Historikerzunft im Umgang mit Speer" durch den zweiten Teil des Buches. Viele renommierte Kollegen - er nennt Golo Mann, Hans Mommsen oder Eberhard Jäckel - hätten naiv die von Speer konstruierten Geschichten einfach nachgeplappert, ohne sie zu überprüfen, oder wären gar zu bequem gewesen, um selbst in die Archive zu gehen. Dort hätte man, betont Brechtken, schon sehr bald nach 1945 Dokumente finden können, die Speers Lügen entlarvt hätten. Tatsächlich war etwa die Sache mit der Baubewilligung für Auschwitz schon 1948 Gegenstand in einem Prozess gegen Oswald Pohl, Leiter des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes. Doch weder die Öffentlichkeit noch die Forschung hakten nach, auch nicht, als das Dokument 1968 in einer Doktorarbeit von Gregor Janssen erwähnt wurde. Speer blieb unbehelligt und konnte bis zu seinem Tod leugnen, mit Auschwitz verantwortlich verbunden gewesen zu sein.
Ein allzu genauer Blick auf die NS-Gräuel war gesellschaftlich nicht erwünscht
Brechtken beklagt dies wortreich und meint, dass man Speer nicht eher auf die Schliche gekommen sei, liege auch daran, dass sich lange Zeit kein Historiker ernsthaft mit einer Biografie Speers befasst habe. Dabei gab es ja durchaus Lebensbeschreibungen, etwa von Matthias Schmidt (1982), doch diese wurde überdeckt durch eher kontraproduktive Werke von Gitta Sereny (1995), Dan van der Vat (1997) oder Fest (1999). Die Erkenntnisse über Speers Verbrechen kamen vor allem durch Doktorarbeiten ans Licht. Doch erst durch Heinrich Breloers TV-Vierteiler "Speer und Er" (2005) sei die Wahrheit über Albert Speer einem breiten Publikum bekannt geworden. Und erst jetzt musste sich Fest unangenehme Fragen anhören. Eine sehenswerte Ausstellung im Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitaggelände erinnert mit Brechtkens Unterstützung bis zum 26. November an Speer und den Umgang mit ihm in der Bundesrepublik.
Gleichwohl muss die Frage gestellt werden, ob Historiker durch Quellenfunde wirklich gegen die vorherrschende Meinung vom Edel-Nazi angekommen wären. Dafür macht Brechtken ja das gesellschaftliche Klima verantwortlich, in dem ein allzu genaues Hinsehen über Jahrzehnte nicht für wünschenswert erachtet wurde und die wenigen Kritiker mundtot gemacht wurden. So waren sicher auch zahme und naive Historiker schuld, dass nicht eher am Ruf dieses Speer-Kartells gekratzt wurde, aber womöglich musste sich auch erst der gesellschaftliche Rückhalt für die gern gelesenen Speer-Legenden auflösen, ehe unvoreingenommen die Wahrheit erforscht werden konnte. Beigetragen haben dazu zahlreiche Historiker, die sich intensiv mit der Täter- und Holocaust-Forschung und der Etablierung einer Erinnerungskultur beschäftigt haben.
Spät, aber nicht zu spät kommt nun Magnus Brechtkens furiose Biografie, nach deren Lektüre niemand mehr Speers Märchen als Quelle für den Nationalsozialismus ansehen kann. Zu Ende erforscht ist die Speer-Saga aber noch lange nicht.