Ukraine-Krise:Bereit für alles

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Hauptmann der Reserve Wladimir Lysenko am Sonntag in Kiew. So wie viele Ukrainer gibt er sich der Hoffnung hin, dass es keinen Krieg geben wird. (Foto: Florian Hassel)

In Kiew gedenken die Menschen ihrer Landsleute, die 2014 bei Protesten am Maidan getötet wurden. Mit einem Einmarsch der Russen rechnen die wenigsten. Und wenn, dann werde man eben kämpfen, sagen sie.

Von Florian Hassel, Kiew

Eine prächtige Wintersonne lässt die goldenen Kuppeln des Kiewer Michaelsklosters erstrahlen, als der Hauptmann der Reserve Wladimir Lysenko mit hellroten Nelken in der Hand zur doppelten Erinnerungsmission antritt. 300 Kilometer weit ist Lysenko nach Kiew gefahren, um an diesem Tag gefallener Freunde zu gedenken.

Der 20. Februar 2014 war der blutigste Tag der Revolution auf dem Maidan, als der von Moskau gestützte Präsident Wiktor Janukowitsch Proteste gegen seine Abkehr vom europäischen Kurs der Ukraine von Spezialeinheiten zusammenschießen ließ. Es war der Anfang vom Ende der Janukowitsch-Herrschaft - seitdem gedenken die Ukrainer jedes Jahr der "Himmlischen Hundert", der rund 130 auf dem Maidan für einen europäischen Kurs und gegen ein Leben unter russischer Oberherrschaft gestorbenen Landsleute.

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Auch Wladimir Lysenko kam damals mit Gleichgesinnten aus dem 47 000-Einwohner-Städtchen Ochtyrka östlich von Kiew auf den Maidan. Auch mit seinen 55 Jahren ist Lysenko noch ein Mann wie ein Bär, mit blauen Augen und feschem Schnurrbart zu kurzen grauen Haaren. Lysenko hat sich an diesem Tag die ukrainische Fahne mit der Aufschrift "Ochtyrka" über die Schultern gelegt, die er vor sieben Jahren auf dem Maidan getragen hat. Ein Mann mit seiner Erfahrung ist gefragt in jedem Kampf, im Dienst der Roten Armee hat Lysenko als junger Offizier vor mehr als drei Jahrzehnten in Wismar, Stendhal und Schwerin gedient.

Auf dem Maidan half Lysenko beim Barrikadenbau. Nach dem Sturz Janukowitschs und dem Beginn des Krieges in der Ostukraine meldete er sich als Oberleutnant der Reserve bei der 15. Brigade der ukrainischen Armee zum Kampf gegen die von Russland organisierten Separatisten und die russische Armee. Lysenko und seine Kameraden kämpften 2015 an der Front in der Nähe von Popasna westlich von Lugansk. Lysenko wurde zum Hauptmann befördert, sein Freund Andrij Kaplunowskij zum Oberleutnant - gemeinsam feierten sie ihre Beförderung mit einem Glas Wodka. Am Morgen des 19. August 2015 war Kaplunowskij mit seinem Fahrer Andrij Balischow unterwegs, um Material zum Bau eines Unterstandes an die Front zu bringen. Ihr Wagen fuhr auf eine Mine - beide Soldaten starben, Lysenkos Freund und der Fahrer.

"Allein aus Ochtyrka habe ich weitere elf Kameraden verloren"

An der hellblauen Außenmauer des Michaelskloster sind die Fotos Kaplunowskijs und Balischows zwei von Tausenden Fotos an der "Mauer des Gedenkens an die gefallenen Verteidiger der Ukraine im russisch-ukrainischen Krieg". Längst ist die rund hundert Meter lange Mauer voll behangen. Lysenko schaut auf die Fotos seiner toten Kameraden. "Die beiden sind nicht die einzigen", sagt er. "Allein aus Ochtyrka habe ich weitere elf Kameraden verloren." Dann legt er seine Nelken nieder. Später geht er zum Maidan-Platz weiter - auch dort legen die Ukrainer an diesem Tag Blumen vor Bildern der dort gestorbenen Ukrainer ab.

Wladmir Lysenko ist immer noch Hauptmann der Reserve, die letzten zwei Wochen Auffrischungstraining hat er im vergangenen August absolviert. Ochtyrka liegt nur ein paar Dutzend Kilometer von der russischen Grenze entfernt, die dort angrenzende Region Belgorod gehört jetzt zum Hauptaufmarschgebiet der russischen Armee rund um die Ukraine.

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Im Donbass verstärkten die Truppen der von Moskau kontrollierten Separatistengebiete der "Volksrepublik Donezk" und "Volksrepublik Lugansk" ihre Artillerieangriffe auf ukrainische Stellungen, wie Einwohner dem Kyiv Independent bestätigten. Von einer Massenflucht könnte entgegen Behauptungen russischer Medien bisher keine Rede sein, berichtete eine Mitarbeiterin des Infodienstes Ostro a us Donezk.

Das Conflict Intelligence Team stellte am Sonntag weitere Verstärkungen und Vorbereitungen für einen möglichen Angriff fest. Nach US-Präsident Joe Biden sagte auch Englands Premierminister Boris Johnson, die Informationen wiesen auf eine russische Invasion hin, "nicht nur durch den Osten im Donbass ... sondern auch vom Norden von Belarus und Kiew einkreisend".

19 Prozent der Ukrainer halten einen Einmarsch für "sehr wahrscheinlich"

Doch Lysenko ist immer noch optimistisch. "Ich glaube nicht, dass Putin einmarschiert. Wer einen Krieg vorbereitet, tut dies nicht so, dass jede Einheit von Satelliten fotografiert werden kann - er will Europa und uns nur maximal einschüchtern, um seine Ziele zu erreichen."

Auch der pensionierte Ingenieur Wolodimir Solohub und seine Frau Lydia kommen am Sonntag zum Michaelskloster. Im Kloster nehmen sie an einem Gottesdienst zu Ehren der Maidan-Toten teil und auch sie machen an der Gedenkmauer halt. Wolodimir Solohub glaubt ebenfalls nicht an einen russischen Angriff. "Putin will uns nur so lange wie möglich an der Gurgel halten und verhindern, dass wir nach Europa kommen." Dies ist, allen Informationen über den Aufmarsch zum Trotz, die Meinung der meisten Ukrainer: In einer am 17. Februar abgeschlossenen Umfrage der Agentur Rating schätzten nur 19 Prozent der Befragten einen russischen Angriff als sehr wahrscheinlich ein.

Wolodimir Solohub und seine Frau Lydia an der Gedenkmauer des Michaelsklosters. (Foto: Florian Hassel)

Doch Lydia Solohub ist sich nicht sicher. "Die Geschichte Russlands ist die Geschichte der Eroberung anderer Länder - und Putin ist unberechenbar." Immerhin, da ist sie sich mit ihrem Mann einig, "haben wir heute Gott sei Dank eine völlig andere Armee als noch 2014. Sie ist hochmotiviert und wird bis zum Letzten kämpfen". Militärspezialisten des Londoner Royal United Services Institut legten freilich einen ebenso gründlichen wie pessimistischen Bericht über die Chancen des ukrainischen Militärs gegen die technisch überlegenen Russen vor. Doch in der Rating-Umfrage äußerten sich knapp zwei Drittel der befragten Ukrainer überzeugt, ihre Armee könne einen russischen Angriff zurückschlagen.

Im Fall des Reservehauptmanns Wladimir Lysenko sind seine Frau Miroslawa, die erwachsenen Töchter Anna und Inna und der 15 Jahre alte Sohn Iwan "wie ich alle noch in Ochtyrka, keiner von uns ist in Panik. Die Ukraine von heute ist nicht die Ukraine von 2014 - heute haben wir eine echte Armee und eine halbe Million Reservisten wie mich, die mit der Waffe umzugehen wissen. Das weiß auch Putin", sagt Lysenko. "Wenn ich mich irre und die Russen doch einmarschieren, weiß ich, wo ich meine Waffe abholen muss. Ich habe ohnehin keine Wahl als zu kämpfen: Entweder erschießen uns die Russen oder sie schicken uns nach Sibirien."

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