Ukraine:Land in Atemnot

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Der Bürgermeister der Hauptstadt jedenfalls gibt als Maskenträger ein gutes Beispiel: Witali Klitschko vor Kurzem bei einem Kongress in Kiew. (Foto: Evgen Kotenko/imago images/Ukrinform)

Selbst Sauerstoff fehlt zur Behandlung von Covid-19-Kranken. Auch Präsident Wolodomir Selenskij hat das Virus getroffen, und so wie in der Regierung greift die Pandemie im ganzen Land um sich.

Von Florian Hassel, Belgrad

Es war eine neue Idee des Präsidenten für das Wohlergehen der Ukrainer. Es sei Zeit zu trainieren, Vitamine zu essen und für ein nationales Sportprogramm, "um die Gesundheit der Nation zu verbessern", schlug Wolodimir Selenskij am Dienstag vor. Der Präsident selbst muss mit der Umsetzung etwas warten: Seit Dienstagabend wird Selenskij mit Covid-19 in der Kiewer Feofania-Klinik behandelt, seiner Sprecherin zufolge angeblich nur wegen leichter Symptome. Nebenan liegt Selenskijs Stabschef Andrij Jermak - auch er ist mit dem Virus erkrankt. Ebenso wurde Parlamentspräsident Dmytro Rasumkow positiv auf Covid-19 getestet und arbeitet nun von zu Hause. Der Verteidigungsminister immerhin meldete sich von der Infektion genesen.

Die Pandemie greift in der Regierung genauso um sich wie im Rest der Ukraine. Am Donnerstag meldete das Gesundheitsministerium 11 057 neu Infizierte, den höchsten Stand seit Pandemiebeginn. 198 Menschen starben allein am Vortag. Offiziell kamen in der 44 Millionen Einwohner zählenden Ukraine bisher 9145 Menschen durch Covid-19 ums Leben. In vielen Krankenhäusern fehlen freie Betten und selbst Sauerstoff für Patienten. Wenn es weitergehe wie bisher, werde es bald "in den Krankenhäusern nicht einmal mehr auf den Fluren Plätze geben", sagte Ministerpräsident Dennis Schmigal bei einer Kabinettssitzung am Mittwoch.

Der Gesundheitsminister spricht von "Hurrikan-Tempo". Einen weitgehenden Lockdown wird es nicht geben

Im ostukrainischen Charkiw zum Beispiel sind im regionalen Krankenhaus für Infektionskrankheiten alle 290 Betten belegt, die täglich durch den Tod von Covid-Patienten bis zu acht freiwerdenden Betten werden sofort durch im Empfangsbereich wartende Kranke belegt, berichtete Krankenhausdirektor Pawel Nartow dem Infodienst Kharkiv Today. Die Wartenden bekommen Sauerstoff aus mobilen Geräten - und haben damit Glück: In vielen Krankenhäusern wäre nicht einmal das möglich. Einer Charkiwer Notfallärztin zufolge mussten Krankenwagen schon in mehreren Fällen den Transport von nach Luft ringenden Covid-Patienten ins Krankenhaus ablehnen, weil sie keine Sauerstoffflaschen mehr zur Verfügung hatten. Händler von Medizinbedarf erwarten frühestens am Monatsende neue Sauerstofflieferungen.

Gesundheitsminister Maxim Stepanow sprach am Donnerstag von "im Hurrikan-Tempo" zunehmenden Infektionszahlen. Es sei "sehr wichtig, den Kollaps des medizinischen Systems zu verhindern". Doch einen weitgehenden Lockdown wie in anderen Ländern könne sich die Ukraine nicht leisten, sagte der Chef-Sanitätsarzt des Landes, Wiktor Ljaschko. So sollen an den kommenden drei Wochenenden lediglich Restaurants und Cafés, Kinos, Theater und Fitnessklubs geschlossen bleiben.

Mehrere Bürgermeister sind entschlossen, in ihren Städten die Beschränkungen zu ignorieren

Die Ansteckungen explodieren auch in der Ukraine, weil viele Bürger Corona-Regeln nicht befolgen, selbst krasse Verstöße nicht geahndet und Kontaktketten nicht zurückverfolgt wurden. Der Bildungsunternehmer Iwan Primatschenko schimpfte im Infodienst Novoje Wremja, die Menschen würden einen Lockdown nicht befolgen, weil Gelder statt in die Krankenhäuser in die Polizei oder in den Straßenbau flössen, weil Discos mit dicht gedrängtem Publikum auf den Tanzflächen nicht bestraft würden und Präsident Selenskij Gruppenfotos ohne Schutzmaske veröffentliche.

Tatsächlich wollen viele Städte selbst den Wochenend-Lockdown-light ignorieren. Lembergs Bürgermeister Andrij Sadowij erklärte einen Lockdown nur am Wochenende für absurd; die Stadt werde gegen den entsprechenden Kabinettsbeschluss klagen. In der Frontstadt Slawjansk in der Ostukraine verkündete Bürgermeister Wadim Ljach, er werde die Beschränkungen ignorieren: Das Wochenende sei für die Einwohner umliegender Dörfer oder Vorstädte die einzige Möglichkeit, ihre Agrarprodukte zu verkaufen oder selbst einzukaufen. In Charkiw demonstrierten Hunderte Unternehmer gegen die Wochenendbeschränkungen. Was Charkiws Bürgermeister Gennadij Kernes davon hält, ist nicht bekannt: Kernes liegt seit Mitte September mit Covid-19 in der Berliner Charité.

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