Kindesentführungen:Wenn Kinder zur Trophäe werden

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Teddybären und weitere Spielzeuge, die Aktivisten in Brüssel aufgestellt haben, sollen auf die aus der Ukraine entführten Kinder aufmerksam machen. (Foto: NICOLAS MAETERLINCK/AFP)

Mindestens 20 000 ukrainische Kinder wurden bereits nach Russland verschleppt, wahrscheinlich sogar viel mehr. Die Ukrainerin Darja Kasjanowa versucht, sie nach Hause zurückzuholen.

Von Finn Walter

Auf einer Kinoleinwand in Berlin, Prenzlauer Berg, ist ein blondes Mädchen zu sehen. Sie ist zehn Jahre alt, aber sie wirkt älter, wenn sie erzählt, wo sie die vergangenen Monate verbracht hat: Sie erzählt von ihrer Zeit in einem russischen Umerziehungslager. Das Mädchen kommt aus der Region Cherson im Süden der Ukraine. Russische Soldaten haben sie verschleppt, nachdem sie ihre Heimatstadt besetzt hatten. Sie erzählt, dass sie bestraft wurde, wenn sie Ukrainisch sprach oder sich weigerte die russische Nationalhymne mitzusingen.

Es ist ein Schicksal, das viele ukrainische Kinder erleiden. Nach offiziellen Angaben sind es fast 20 000. Laut Experten ist die tatsächliche Zahl wohl noch viel höher. Da der Kontakt zu vielen Kindern und Familien in den besetzen Gebieten abgerissen ist, lässt sich kaum nachvollziehen, wer entführt wurde. Russische Stellen selbst sprechen von bis zu 600 000 Kindern, die sie "in Sicherheit gebracht" haben wollen.

Ein paar Stunden vorher sitzt Darja Kasjanowa in einem Café in Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Sie zeigt Fotos von ihrer vierjährigen Tochter, die seit zwei Jahren im Krieg lebt. "Am Anfang haben wir ihr erzählt, dass es keine Bomben sind, die sie hört, sondern Donner", sagt Kasjanowa. Bereits vor dem Krieg arbeitete sie in einem SOS-Kinderdorf. Heute ist sie Vorsitzende des ukrainischen Netzwerks für Kinderhilfe. Im Jahr 2014 musste sie aus der ostukrainischen Provinz Donezk fliehen. Mit ihrer Familie zog die heute 46-Jährige nach Irpin, einem Vorort von Kiew, der es zu trauriger Berühmtheit brachte, als russische Soldaten in den ersten Wochen des Krieges dort Massaker an Zivilisten verübten.

Wenn Kasjanowa über ihre Arbeit redet, klingt das routiniert. Abends gibt es eine Podiumsdiskussion im Kino. Auch der Ex-Boxweltmeister Wladimir Klitschko ist da. Dort sind eher die deutschen Gäste sichtlich angefasst von den Schicksalen. Man stelle sich nur vor, es seien die eigenen Kinder, fasst es der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Brand zusammen.

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin und die russische Kinderrechtskommissarin Marija Lwowa-Belowa erlassen. Denn die gezielte Verschleppung und Umerziehung von Kindern gelten als Merkmale von Völkermord.

Kasjanowa berichtet von verzweifelten Angehörigen, die nicht wissen, wo ihre Kinder oder Enkelkinder sind. Russische Soldaten, erzählten ihnen von Ferienlagern auf der Krim, wo sie ihre Kinder kostenlos über den Sommer unterbringen könnten - weit weg vom Krieg. Aus den Lagern kommen die Kinder aber meist nie zurück in die Ukraine, sondern werden weiter nach Russland gebracht. Nicht immer schickten die Eltern ihre Kinder freiwillig dorthin. Gerade Pflege- und Heimkinder seien besonders gefährdet, einfach entführt zu werden, sagt Kasjanowa.

Angewiesen auf die Hilfe russischer Behörden

Manche der Kinder kontaktieren Kasjanowa, wenn sie an ein Handy gelangen. Sie versucht dann herauszufinden, wo die Kinder hingebracht wurden. Um sie zurück nach Hause zu holen, ist sie auf russische Behörden angewiesen. "Die Angehörigen müssen das Büro der Kinderrechtskommissarin kontaktieren und nachweisen, dass sie sorgeberechtigt sind", sagt Kasjanowa. In den seltensten Fällen laufe das problemlos. Und in den wenigen Fällen, in denen die Russen so einen Antrag akzeptieren, ist es immer noch ein weiter Weg nach Hause. Da es keinen sicheren Weg durch die Front gibt, müssen die Kinder über Belarus und Polen in die Ukraine reisen.

Bis Dienstag waren nach offiziellen Angaben 388 Kinder zurückgekehrt. In 84 Fällen habe Kasjanowa und der Verein SOS-Kinderdörfer weltweit bei der Rückführung geholfen. Am Dienstagabend teilte der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Dmytro Lubinez mit, dass weitere elf von ihren Angehörigen getrennte Kinder zurück in der Ukraine seien, sechs Mädchen und fünf Jungen im Alter zwischen zwei und sechzehn Jahren. Katar und das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen hätten bei der Rückführung vermittelt. Laut Lubinez hatte ein Teil der Kinder bereits russische Pässe und russische Vormunde erhalten.

"Wenn du eine Nation auslöschen möchtest, musst du die Geschichte der Nation auslöschen": Ex-Boxweltmeister Wladimir Klitschko (rechts) zusammen mit dem ukrainischen Botschafter Oleksij Makejew in Berlin. (Foto: Jörg Carstensen/dpa)

Der Boxweltmeister Wladimir Klitschko hat zusammen mit einer Mitarbeiterin die Geschichten der zurückgekehrten Kinder in einem Buch protokolliert. "Wenn du eine Nation auslöschen möchtest, musst du die Geschichte der Nation auslöschen", fasst er die Strategie der Russen zusammen. Ziel sei es, dass ukrainische Kinder am Ende an der Front gegen ihr eigenes Volk kämpften. Klitschko nennt es "Gehirnwäsche", was in den Lagern passiere. Wenn man Darja Kasjanowa fragt, warum Russland all dies tut, sagt sie: "Die Kinder sind eine Trophäe, denn sie sind das Wertvollste, was eine Gesellschaft hat."

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