Die Nacht zum 1. Mai, die in Ländern der früheren Sowjetunion feierlich begangen wird, ist in der Ukraine gewöhnlich eine der ruhigsten Nächte des Jahres. Doch nichts ist gewöhnlich in diesen Tagen in der Ukraine, erst recht nicht in Donezk, wo die Macht der Kiewer Übergangsregierung in atemberaubendem Tempo zerbröselt - und der Zerfall auch zum 1. Mai keine Pause macht.
Erst überfielen etwa 30 Bewaffnete eine Bankfiliale. Die alarmierte Polizei nahm immerhin sieben Angreifer fest - und beschlagnahmte bei ihnen Karabiner, Pistolen und Kalaschnikows. Die meisten Bankräuber aber entkamen - offenbar mitsamt zwei Geiseln. Bald füllten die Separatisten ihren Waffenvorrat an anderer Stelle wieder auf: In Awdeewka, 20 Kilometer nördlich von Donezk, überfielen sie einen Kontrollpunkt der Verkehrspolizei und nahmen den Beamten die Waffen ab.
Und in Donezk umzingelten die Separatisten gleich fünf schwerbewaffnete Polizisten einer gewöhnlich gegen das organisierte Verbrechen kämpfenden Sondereinheit und nahmen ihnen die Maschinenpistolen ab. Offenbar leisteten sie keinen Widerstand.
Passive oder die Separatisten unterstützende Polizisten, Geheimdienstler und Soldaten sind im Osten der Ukraine derzeit das wohl größte Problem der Kiewer Übergangsregierung. Als etwa die prorussischen Separatisten am Dienstag in der Regionalhauptstadt Lugansk nahe der russischen Grenze auf den Sitz von Gouverneur und Verwaltung marschierten, forderten sie die den Sitz bewachenden Polizeieinheiten auf, ihre Waffen zu übergeben - woraufhin diese das Feld räumten.
"Passivität, Hilflosigkeit und sogar krimineller Betrug"
Übergangspräsident Alexander Turtschinow gab am Mittwoch bei einem Treffen mit den Gouverneuren das Offensichtliche zu: dass die Regierung weder in Donezk noch in Lugansk die Lage mehr kontrolliere. "Passivität, Hilflosigkeit und sogar krimineller Betrug" der Sicherheitskräfte seien an der Tagesordnung. "Es ist schwer zu akzeptieren, aber es ist die Wahrheit: Die Mehrheit der Gesetzesdiener im Osten ist unfähig, ihre Pflichten zu erfüllen." Für das Versagen der Sicherheitskräfte gibt es etliche Gründe: ihre oft schlechte Ausbildung und mangelnde Loyalität gegenüber Kiew, miserable Bezahlung und daraus resultierende hohe Korruption; sowie auch die Angst, dass die Übergangsregierung in Kiew oder die möglicherweise bald im Osten herrschenden Russen sie nach einem gewaltsamen Vorgehen gegen die Separatisten zu Sündenböcken machen, sollte etwas schiefgehen.
Schon lange vor ihrem Versagen im Osten machte die ukrainische Polizei vor allem negative Schlagzeilen, bis hin zu gefälschten Beweismitteln und Folter. 43 Prozent der Ukrainer bekommen nach einer Anzeige überhaupt keine Hilfe durch die Polizei, ein weiteres Drittel zu spät oder nur teilweise, schreibt die auf Polizei und Justiz spezialisierte Menschenrechtsgruppe UMDPL.
Beiläufig erzählt ein Elitesoldat, er komme gerade von der Krim
Knapp eine Million Ukrainer wird jedes Jahr Opfer gewaltsamer Übergriffe von Polizeibeamten. Polizisten wiederum sind schlecht ausgebildet und ausgestattet, sie werden mit Gehältern von umgerechnet nicht einmal 150 Euro im Monat miserabel bezahlt. Für ihre Dienstwagen bekommen ukrainische Polizisten im Durchschnitt 2,3 Liter Benzin täglich bezahlt. Vor allem in den Regionen stehen Polizisten "am Rande des Überlebens", mahnte die seit Jahren erfolglos auf Reformen dringende Kiewer Polizeiforscherin Oksana Markejewa.
Bei vielen Polizisten, oft mit niedrigem Bildungsstand, fällt die Propaganda des Kreml auf fruchtbaren Boden. "In Kiew regieren jetzt Faschisten, das alles ist von den USA gesteuert, die versuchen, auch uns im Osten unter ihre Kontrolle zu bekommen", sagt ein Offizier, der in Donezk mit Separatisten ein besetztes Sendezentrum bewacht. Dazu kommt bei vielen Polizisten die Überzeugung, im Zweifelsfall von Kiew verraten zu werden. Am Lenin-Denkmal im Zentrum von Donezk stehen Blumenkränze und brennende Kerzen vor den Fotos zwölf toter Polizisten.
Die Polizisten, Angehörige der Sondereinheit Berkut, wurden vom ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch aus Donezk und anderen Städten im Osten nach Kiew geschickt. Bei den Kämpfen im Februar starben gut 100 Demonstranten - aber auch zwölf Berkut-Polizisten. Seitdem wurde die Berkut aufgelöst, Anfang April zwölf ihrer ehemalige Offiziere festgenommen. In Donezk aber gelten Berkut-Veteranen vielen als Helden im Kampf gegen die angeblich in Kiew regierenden "Faschisten". "Warum sollte ich für die Bande in Kiew meinen Kopf hinhalten?", antwortet der Polizeioffizier am Sendezentrum lakonisch. "Viele meiner Kollegen sind wie ich dafür, dass wir schnell zu Russland kommen." Ein unausgesprochenes Motiv: In Russland verdienen Polizisten oder Soldaten ein Vielfaches der ukrainischen Gehälter.
Selbst nicht offen überlaufende Polizisten führen Befehle ihrer Vorgesetzten oft nur noch pro forma aus. Als am vergangenen Montag mehrere tausend Donezker friedlich für die Einheit der Ukraine demonstrieren, "griffen uns auf einmal Vermummte mit Schlagstöcken an", erzählt der 19 Jahre alte Politikstudent Oleg Saakjan, Mitorganisator der Kundgebung. Dutzende Demonstranten wurden verletzt, teils schwer. Die meisten der 450 eigentlich zum Schutz der Demonstranten eingesetzten Polizisten und Spezialeinheiten "sahen tatenlos zu - oder unterstützten die Gewalttäter noch", beschreibt es Saakjan. "Ich wurde selbst von einem Polizisten mit einem Schlagstock getroffen."
Polizei und Sicherheitsdienst sind offenbar unterwandert
Sieben Demonstranten wurden von den prorussischen Gewalttätern entführt und erst Stunden später befreit, bestätigte die Donezker Polizei. Zwei entführte Studenten wurden misshandelt und russischen Medien als angebliche Mitglieder des ultranationalistischen "Rechten Sektor" präsentiert. Als die Studenten nach ihrer Befreiung Anzeige erstatten wollten, gaben ihnen Polizisten angeblich zur Antwort: "Ihr könnt Anzeige erstatten oder auch nicht - hier wird ohnehin bald Russland sein." Als Anhänger einer einigen Ukraine am Mittwochabend demonstrieren wollten, ließ der Bürgermeister von Donezk kurzerhand den für ihre Kundgebung vorgesehenen Park schließen.
Sowohl die Polizei wie auch der Geheim- und Sicherheitsdienst SBU sind offenbar stark von russischen Gefolgsleuten unterwandert. Am vergangenen Wochenende wurden drei SBU-Offiziere auf einer Aufklärungsmission gefangen genommen und ins Separatistenhauptquartier nach Slawjansk gebracht. Blutig geschlagen, wurden sie anschließend russischen Journalisten vorgeführt. Die Mission der Offiziere wurde offenbar verraten. Der Leiter des SBU-Anti-Terror-Zentrums, Wassil Krutow, gab zu, dass seine Abteilung von Agenten durchsetzt sei, "die rekrutiert worden sind und für den Feind arbeiten". Übergangspräsident Turtschinow hat mittlerweile die gesamte Führung von Polizei, Geheimdienst und Sondereinheiten im Donbass ausgetauscht - genutzt hat es wenig.
Der Volksbürgermeister? "Der ist ein Niemand - hier entscheiden jetzt wir."
Anders als in den chaotischen Anfangswochen verfügen die Separatisten zudem mittlerweile über einen fähigen militärischen Kopf: Oberst Igor Strelkow, nicht nur vom ukrainischen Geheimdienst, sondern am 28. April auch von der EU offiziell als Offizier der GRU identifiziert, des für Aufklärung und Auslandseinsätze zuständigen Geheimdienstes des russischen Generalstabs. Aus der Separatistenhochburg Slawjansk kommandiert er die bewaffneten Rebellen der Region und offenbar auch etliche russische Spezialeinheiten.
Die bestens ausgerüsteten, professionell vorgehenden "grünen Männer", die in dieser Woche Verwaltungsgebäude und Polizeireviere in vier weiteren Städten - Konstantinowka, Lugansk, Gorliwka, Amwrosijewka - besetzten, tauchten im Osten der Ukraine erst in den vergangenen Tagen auf. Anfang dieser Woche erzählte ein hochgerüsteter Elitesoldat am Rathaus von Slawjansk der Süddeutschen Zeitung beiläufig, er sei zuvor in Tschetschenien und gerade erst auf der Krim eingesetzt worden.
Den "Volksbürgermeister" von Slawjansk, Wjatscheslaw Ponomarjow, tat der Soldat mit einer Handbewegung ab. "Der ist ein Niemand - hier entscheiden jetzt wir." Sein Chef Strelkow machte in der oft als Sprachrohr russischer Geheimdienste dienenden Moskauer Tageszeitung Komsomolskaja Prawda kein Geheimnis daraus, dass ein Drittel seiner Bewaffneten keinen ukrainischen Pass haben.
Auch Entführung und Mord gehören offenbar zur Strategie. Am Dienstag kidnappten die Separatisten in Kramatorsk den Chef der Kriminalpolizei und den Leiter der Rauschgiftbekämpfung, nachdem diese nicht überlaufen wollten, und verschleppten die Männer laut dem Innenministerium nach Slawjansk. Dort sollen neben den sieben OSZE-Militärbeobachtern mittlerweile mehrere Dutzend weitere Geiseln gefangen gehalten werden. Wolodymyr Rybak traf es noch schlimmer. Der Stadtrat nahm in Gorliwka an einer Demonstration für die Einheit der Ukraine teil und wollte die auf dem Rathaus aufgezogene Flagge der Separatisten wieder durch die ukrainische ersetzen. Rybak wurde von vier Maskierten entführt - und am 23. April mit schweren Folterspuren tot in einem Fluss bei Slawjansk aufgefunden.