Ukraine:Gespenstische Tage in Donezk

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Prorussische Separatisten fahren auf einem Panzer in der ostukrainischen Stadt Donezk (Foto: REUTERS)

In Donezk herrscht Ausgehverbot, die Kriegsangst wächst. Der prorussische "Volksgouverneur" warnt die ukrainische Regierung vor einem Einmarsch. Die weiß genau, wie entsetzlich ein Häuserkampf für die Bevölkerung sein könnte.

Von Florian Hassel, Donezk

Die Straßensperren der Separatisten hat Natalja Tomarowskaja (Name geändert) noch ertragen. Auch als die Rebellen der selbst ausgerufenen "Volksrepublik Donezk" begannen, echte oder eingebildete Gegner zu entführen und ein Bekannter spurlos verschwand, waren die 23 Jahre alte Natalja und ihr 26 Jahre alter Mann Jewgenij, ein Bergmann, noch entschlossen zu bleiben. Und das, obwohl Jewgenij sein Gehalt seit zwei Monaten nicht mehr bekam. Circa 100 Verwandte, Nachbarn und Bekannte, schätzt Natalja, sind schon Wochen zuvor aus Donezk und dem angrenzenden Makeevka geflohen. Monatelang war der Krieg in Donezk weit entfernt. Die prorussischen Separatisten und die ukrainische Armee kämpften in und um die Rebellenhochburg Slawjansk, 120 Kilometer und drei Autostunden entfernt. In Mariupol im Süden. Oder in Lugansk im Osten.

In Donezk aber, mit einer Million Einwohnern die größte und wichtigste Stadt im Südosten der Ukraine, war es lange ruhig. Selbst nach einer Schlacht zwischen Rebellen und Armee um die Kontrolle über den Flughafen Ende Mai herrschte wieder eine gespannte Ruhe in Donezk. Das ist vorbei. Eine Woche ist es her, dass die Rebellen vor der erstarkenden ukrainischen Armee nicht nur aus Slawjansk flohen, sondern auch weitere Städte aufgaben - und sich in einer langen Kolonne samt Panzern, Schützenpanzern und Artillerie nach Donezk zurückzogen. Jetzt rücken die Ukrainer vor. Auch in Makeewka war näherkommender Gefechtslärm zu hören. Dann kamen die Panzer der Rebellen.

Am frühen Abend wirkt Donezk wie ausgestorben, um 21 Uhr schließen die letzten Kneipen

"Ich bin vor die Tür gegangen, und da waren sie - vier Panzer. Da haben wir endgültig begriffen, dass der Krieg jetzt auch zu uns kommt", erzählt Natalja Tomarowskaja. Die junge Familie packte das Nötigste zusammen und verschloss Haus und Garten. "Dann gab es für uns nur noch einen Weg: zum Bahnhof von Donezk." Dort besteigen Natalja und Jewgenij mit zwei kleinen Söhnen und ein paar Taschen den Zug nach Dnjepropetrowsk, dreieinhalb Zugstunden westlich von Donezk. Wie viele Menschen überhaupt bisher aus Donezk geflohen sind, weiß niemand. 100 000, schätzt der Bürgermeister, doch da sich viele nicht abmelden, dürften es noch mehr sein. Autos fahren, Busse ebenfalls. Doch die Stadt lebt mit halbierter Kraft.

"Normalerweise wimmelt es hier an einem Werktag von Menschen", sagt Elnur, ein 45 Jahre alter Obsthändler auf Donezks größtem Markt. "Jetzt kannst du die Kunden per Handschlag begrüßen. Die Hälfte meiner Stammkunden ist nicht mehr da: Viele haben sich verabschiedet und mir gesagt, dass sie vor dem Krieg fliehen - in andere Gebiete der Ukraine, nach Russland oder nach Europa. Ich kann nicht weg: Dafür habe ich weder das Geld, noch die Kontakte. Und so geht es vielen Menschen hier", sagt Elnur.

Schon am frühen Abend wirkt das sonst so lebenslustige Donezk mit seinen vielen Parks und kleinen Seen wie ausgestorben. Um 21 Uhr schließen die letzten Kneipen, eilen die Letzten nach Hause: Von 22 Uhr an gilt eine von den Rebellen verhängte Ausgangssperre. Die Nacht ist auch die bevorzugte Zeit für die Rebellen, die nicht für politische Ziele kämpfen, sondern auf Entführung und Lösegelderpressung oder Raub aus sind. Seit Wochen kontrollieren die Separatisten alle strategischen Straßen nach Donezk. Jetzt werden die Straßensperren fieberhaft befestigt, errichten die Rebellen weitere an bisher unbeachteten Nebenstraßen. Längst haben sich die Rebellen auf Schlüsselgebäude in der ganzen Stadt aufgeteilt: den besetzten Sitz der Regionalverwaltung, das Hauptquartier des Geheimdienstes, in Universitätsgebäude und Studentenwohnheime, Verwaltungsgebäude von Kohlebergwerken oder besetzte Firmenzentralen.

Rebellenführer Pawel Gubarew zum Beispiel residiert, ausgerechnet, im früheren Firmensitz von Sergej Taruta. Der ist ein Donezker Milliardär; vor ein paar Monaten machte ihn die neue Kiewer Regierung zum Gouverneur der Region Donezk. Viel zu sagen hat der Gouverneur seit seiner Ernennung freilich nicht, jedenfalls nicht in Donezk. Taruta ist meist in der Hauptstadt Kiew oder in Gebieten, die bereits wieder unter Kontrolle der ukrainischen Armee sind. In Donezk aber sind die Rebellen, und im Taruta-Firmensitz kommandiert Gubarew - ein prorussischer Ultranationalist, der sich im März zum "Volksgouverneur" ausrufen ließ und mit offensichtlicher Unterstützung aus Moskau begann, für den Anschluss der Ostukraine an Russland zu trommeln.

An diesem Nachmittag bittet Gubarew zur Pressekonferenz. Muskelbepackte Männer in der Kampfausrüstung von Eliteeinheiten bringen etliche russische und eine Handvoll westlicher Journalisten, die noch in Donezk sind, nach misstrauischer Prüfung zu Gubarew. "Unser Kampfeswille ist ungebrochen. Wir werden die Stadt verteidigen, wenn die Ukrainer angreifen. Jeden Tag kommen Hunderte Freiwillige zu uns. Jeden Tag rufen uns Dutzende ukrainische Soldaten an, die überlaufen wollen", bemüht Gubarew das Lexikon der Kriegspropaganda. Tatsächlich hat die Unterstützung der Rebellen ihre Grenzen. Als Gubarew und ein anderer Rebellenführer nach der Aufgabe von Slawjansk in Donezk zur Demonstration aufruft, kommen gerade 1000 Menschen auf den Leninplatz im Stadtzentrum und hören Gubarews Durchhalteparolen zu.

Mindestens 478 getötete Zivilisten - das übertrifft die schlimmsten Befürchtungen

Zwar werben die Separatisten mit riesigen Plakaten im Stil sowjetischer Weltkriegspropaganda um Rekruten. "Männer! Alle zur Verteidigung der Heimaterde! Lasst keine Konzentrationslager der Faschisten im Donbass zu!", barmt etwa eine Frau mit kleinem Kind hinter Stacheldraht. Auf einem anderen Plakat wirbt "Verteidigungsminister" Igor Girkin, ein russischer Geheimdienstoffizier, mit anderen "stählernen Russen" um neue Kämpfer für die "Volksmiliz Donbass". Bisher nämlich "gibt es für eine Millionenstadt sehr wenig freiwillige Milizkämpfer", wie Strelkow am Mittwoch zugab. "Acht- bis zehntausend Mann" müssten es mindestens sein - davon sind die Rebellen indes offenbar weit entfernt. Es dürften höchstens 4500 Kämpfer sein, die die Rebellen in Donezk zusammengezogen haben, schätzen mehrere informierte Einwohner.

Ob die Rebellen zudem so kampfeswillig sind, wie ihre Führer tun, ist nicht nur wegen ihres Rückzugs aus Slawjansk und anderen Städten zweifelhaft. Hunderte Rebellen sind aus Russland gekommene Söldner - ihre Lust, in einem Kampf um Donezk zu sterben, dürfte gering sein. Zudem sind die Separatisten keine einheitliche Gruppe unter einem Kommando. Da gibt es, neben der "Volksmiliz", etwa die "Rechtgläubige Armee", die "8. Kompanie" oder das "Bataillon Vostok". Jenes Bataillon zum Beispiel, das mindestens 500 Kämpfer zählen soll, gehorcht nur seinem Kommandeur Alexander Chodakowskij, Ex-Chef einer Eliteeinheit des ukrainischen Geheimdienstes. Einige in Donezk glauben, dass er und seine Männer vom nach Russland geflohenen Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch finanziert werden. Andere, dass der Donezker Oligarch Rinat Achmetow dahintersteht.

Erst vor ein paar Tagen lieferten sich verschiedene Rebellengruppen einen Kampf um die Kontrolle über das Polizeihauptquartier. Nicht nur bei den Rebellen ist die Lage unübersichtlich. Zwar hat das ukrainische Militär angekündigt, die über Donezk verteilten Rebellen nicht mit Granaten oder Kampfflugzeugen zu bombardieren und damit unweigerlich auch unzählige Zivilisten zu töten. Doch "wir haben nicht die Technik und Tausende qualifizierte Spezialeinheiten, die man für einen anderen Einsatz in einer Millionenstadt braucht", gibt ein ukrainischer Offizier zu.

Schon bisher starben beim Krieg in der Ostukraine mindestens 478 Zivilisten, gab der Vize-Gesundheitsminister am Donnerstag in Kiew bekannt - diese Zahl übertrifft selbst schlimmste Befürchtungen. Dem Sprecher des nationalen Sicherheitsrates zufolge soll der Kiewer Präsident Petro Poroschenko bereits einen Plan für einen Angriff auf Donezk und Lugansk gebilligt haben. Genau davor haben viele Menschen in Donezk Angst.

© SZ vom 11.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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