Tunesien und Europa:"Ich oder die Taliban"

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Der gefallenen Diktator Ben Ali hat sich Europas Unterstützung gesichert, indem er mit dem Schreckbild des Islamismus drohte. Auch Deutschland hat den Despoten gehätschelt - ein folgenreicher Fehler.

Sihem Bensedrine

Sihem Bensedrine ist Journalistin und Menschenrechtsaktivistin. Sie lebte lange im Exil. In Tunis will sie ihre Online-Zeitung Kalima wiederaufbauen.

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Der Auslöser war die Verzweiflungstat eines jungen Mannes, der vorläufige Höhepunkt der Sturz des Diktators Ben Ali. Wie viele Tunesier nach jahrzehntelanger Unterdrückung aufbegehren - und das Land revolutionieren. Eine Chronologie.

Von Matthias Kolb

Am 14. Januar hat das tunesische Volk einen mafiösen Diktator gestürzt, der 23 Jahre lang das Land mit eiserner Hand regierte. Den Menschen ist eine Revolution gelungen - ohne eine einzige Kugel zu verschießen, ohne eine einzige Bombe zu zünden, ohne einen einzigen terroristischen Akt. In den vier Wochen vor dem Umsturz hat der Diktator dagegen Blut fließen lassen, er hat befohlen zu schießen, seine Handlanger haben kaltblütig Männer aus ihren Betten gezerrt und erschossen.

Europa aber sah zu, es hat komplizenhaft geschwiegen. Schlimmer noch: Frankreich, die alte Kolonialmacht, gewährte dem Diktator logistische Hilfe, um den Aufstand zu unterdrücken. Drei Tage vor dem Sturz des Tyrannen bot Außenministerin Michèle Alliot-Marie der tunesischen Polizei "französisches Know-how" an, um "die Sicherheit zu regeln".

Kein Regierungschef Europas hat wirklich geglaubt, dass das tunesische Volk in der Lage sein könnte, seine Freiheit und seine Würde zu erkämpfen, ohne gleich in das islamistische Extrem zu verfallen. Im Gegenteil: Wir haben die üblichen Klischees zu hören bekommen - über die kulturell bedingte Unfähigkeit der arabischen Völker zur Demokratie, über unsere Liebe zu Despoten, über die Jahrhunderte, die wir noch durchschreiten müssten, um unsere Freiheit zu verdienen.

Das angebliche tunesische Wirtschaftswunder hingegen, das so viele europäische Politiker lobten, erwies sich als ein Trugbild geschickter Kommunikationspolitik - es entsprach nicht der Wirklichkeit. Von diesem "Wunder" hatten die wenigsten etwas. Die Jugend, gut ausgebildet und ehrgeizig, hat sich gegen ein System aufgelehnt, das sie vergessen, erniedrigt und unterdrückt hat, vor allem in den benachteiligten Regionen im Zentrum und Süden des Landes, wo die Arbeitslosigkeit Rekordwerte erreicht.

Nun sorgen mutige Bürger Tag und Nacht für Sicherheit in ihren Vierteln - gegen die bewaffneten Milizen, die uns der Diktator hinterlassen hat. Dank manipulierter Wahlen mit sowjetähnlichen Ergebnissen hatten Ben Ali und seine Partei, deren Auflösung die Bevölkerung verlangt, sich die Hegemonie über das Land gesichert.

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Dem gefallenen Diktator war es gelungen, sich Europas bedingungslose Unterstützung zu sichern, indem er sein System als Exportmodell für die gesamte Region anpries und mit dem Schreckbild des Islamismus sowie der unkontrollierten Migration drohte. Mit Hilfe der Erpressungsformel "Ich oder die Taliban" hat Ben Ali sich an der Macht gehalten und dabei schamlos bereichert.

Dem gefallenen tunesischen Diktator Ben Ali war es gelungen, sich Europas bedingungslose Unterstützung zu sichern, indem er sein System als Exportmodell für die gesamte Region anpries und mit dem Schreckbild des Islamismus drohte. (Foto: AFP)

Er war nicht weit davon entfernt, eine privilegierte Partnerschaft mit der Europäischen Union zu erlangen - als Belohnung für seine auf Sicherheit ausgerichtete Führung des Landes. Der Protest tunesischer und internationaler Nichtregierungsorganisationen hat nichts bewirkt. Im Gegenteil: Die Regierung verfolgte Verfechter der Menschenrechte, denunzierte sie als Verräter und Spione und drohte ihnen, die tunesische Staatsbürgerschaft abzuerkennen und sie einzukerkern. Möglich war das durch ein maßgeschneidertes Gesetz, den Artikel 61 des tunesischen Strafgesetzbuchs, der im Juni 2010 in Kraft trat und Dissidenten daran hindern sollte, sich hilfesuchend an die Europäische Union zu wenden. Die EU aber hat nicht klar Stellung bezogen gegen dieses Gesetz, das sie ja im Grunde auf die Seite der Feinde Tunesiens stellte.

Doch jetzt, nur ein paar Monate später, hat das tunesische Volk gesprochen: Weder der Diktator noch die Islamisten sollen regieren. Vielmehr wollen freie Menschen eine Demokratie aufbauen und den Versuchen trotzen, ein an Ben Ali angelehntes Regime zu etablieren. Diese Gefahr ist übrigens noch längst nicht beseitigt: Die politische Polizei Ben Alis leistet weiterhin Widerstand, und die Agenten des Geheimdienstes Mukhabarat schleichen um die öffentlichen Gebäude und Plätze.

Das Volk aber hat seine Revolution nicht mit, sondern gegen das offizielle Europa gemacht, das Tunesien hatte fallen lassen. Eine Entschuldigung wäre durchaus angebracht. Besser aber wäre es, das Vertrauen zurückzugewinnen, indem jene zu den wichtigsten Partnern Tunesiens werden, die sich schon immer mit uns solidarisiert haben: die Gewerkschaften, die Anwälte, Journalisten.

Europa hatte stets eine enge Verbindung zu Tunesien - jetzt kann der Kontinent ein ehrlicher Partner für den demokratischen Aufbau werden und helfen, die durch die Revolution gewonnenen Freiheiten zu festigen. Dazu muss Europa jedoch auch ein klares Signal der Unterstützung geben - ein Signal, auf das die Tunesier bis heute warten. Die EU-Länder und auch Deutschland, das den Diktator unterstützt hat, sollten sich jetzt deutlich für diese Revolution aussprechen - und helfen, die Verbrecher zu finden und sie vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen und möglichst verhindern, auch mit Hilfe des UN-Sicherheitsrat, dass sie straffrei davonkommen. ( Tunesien hat das Statut des Internationalen Gerichtshofs nicht ratifiziert, daher kann es einen solchen Beschluss nur mit Hilfe des Sicherheitsrates geben, Anm. d. Red.). Und die durch Diebstahl und Plünderung erlangten Reichtümer der bisherigen Herschaftskaste gehören dem tunesischen Volk. Es hat ein Recht darauf, sie zurückzubekommen.

Europa aber hat gefürchtet, ohne das alte Regime drohe ihm aus Tunesien illegale Masseneinwanderung und vor allem der islamistische Terrorismus. Die Bürger Tunesiens aber wollen ein stabiles Land, eine gerechte Gesellschaft. Mit dem wirtschaftlichen Wiederaufbau werden genügend Ressourcen entstehen, um neue Jobs für seine arbeitslosen Akademiker und Arbeiter zu schaffen - sodass niemand sich mehr wie Mohamed Bouazizi, der Obstverkäufer, verbrennen muss, weil er so verzweifelt war. Sie werden vielmehr ihr Land und ihre Demokratie aufbauen - und so das wahre politische und wirtschaftliche Wunder in ihrer Region vollbringen.

Das Volk, dem die unblutige Revolution gelungen ist, wird wachsam sein, um die Rückkehr der Despotie zu verhindern. Die Tunesier wollen das mit Hilfe ihrer Nachbarn jenseits des Mittelmeeres schaffen. Wenn die EU aber misstrauisch und auf Distanz bleibt, dann werden sie ihre Zukunft allein in die Hand nehmen - ohne Europa.

© SZ vom 21.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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