Tunesien hat binnen 24 Stunden drei Präsidenten gehabt: am Nachmittag des Freitags noch Zine el-Abidine Ben Ali, nach seiner Flucht am Abend den Premierminister Mohamed Ghannouchi, am Samstag durch Beschluss des Verfassungsrates den Parlamentsvorsitzenden Fouad Mebazaa. Dieser verkündete umgehend Neuwahlen des Staatschefs binnen 60 Tagen, während Ghannouchi sich bemühte, eine Koalitionsregierung der Nationalen Einheit unter Einschluss einiger bisher bedeutungsloser Oppositionsparteien zu bilden. Für viele Tunesier liegt schon jetzt die Folgerung nahe: "Der Diktator ging, seine Paladine bleiben."
Ghannouchi war bereits an Ben Alis Seite, als dieser vor 23 Jahren antrat. Seit zwölf Jahren ist er Regierungschef und als Wirtschaftsfachmann gerade für jene Politik verantwortlich, die zur katastrophalen Arbeitslosigkeit führte. Die Unruhen der vergangenen Wochen und der Umsturz waren ihre Folge. Mebazaa gehört dem Scheinparlament seit 1964 an und war mehrfach Minister. Beide gelten als ehrlich. Aber als Symbolfiguren eines neuen Tunesiens eignen sie sich wenig. Da wieder Ordnung hergestellt werden muss, wenn das Land nicht im Chaos versinken soll, wird man umdeklarierten Wein in alte Schläuche füllen müssen.
Ben Ali war fast ein Vierteljahrhundert an der Macht. Seine Partei RCD ist praktisch mit dem Staat identisch. Dessen Institutionen, die Bürokratie, Polizei, die Wirtschaftsverwaltung, vom riesigen Geheimdienst gar nicht zu reden, haben ein Millionenheer von Klienten hinterlassen, die das Verschwinden des Systems nicht glücklich machen würde. Die Freiheit, von der das Volk träumt, ist nicht unbedingt ihre Sache. Die Schlägertrupps des Präsidenten, die gestern noch Andersdenkende prügelten und ihre Autos demolierten, plündern und brandschatzen heute, um eventuellen Reformern ihr Störpotential zu zeigen.
Man weiß inzwischen, dass Ben Ali sich nach letzten Stunden verzweifelter Manöver zur Flucht entschloss, weil die Armee ihm klargemacht hatte, dass sie nicht mehr schießen werde, auch nicht um ihn persönlich vor der Wut des Volkes zu schützen. Noch in der vergangenen Woche hatte der Präsident den Kommandeur des Heeres abgesetzt, weil dieser für seinen Geschmack nicht hart genug gegen die demonstrierende Menge vorging. Jetzt sichern vorwiegend die Streitkräfte die Ruhe in der Hauptstadt.
Auf die Polizei ist nur begrenzt Verlass. Ihre Leute stehen innerlich teils aufseiten Ben Alis. Für die Zeit des Übergangs dürfte das Militär unentbehrlich sein - vielleicht sogar auf Dauer. Falls ein noch unbekannter General dabei entdeckt, dass er die Sache besser macht als die unpopulären Politiker, wäre dies nicht das erste Mal in der arabischen Welt.
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In Tunesien nehmen die Proteste gegen die Übergangsregierung und die alte Einheitspartei zu. Das Land hat gewaltige Aufgaben vor sich.
Für die kleine Opposition, die jahrzehntelang an der Kandare geführt wurde, wird es nicht einfach sein, in kurzer Zeit Präsidentschaftskandidaten aufzubauen. Sie hat keine eingespielten Partei-Apparate, keine Presse, kein Geld. Mebazaa versprach zwar, "alle Tunesier ohne Ausnahme" würden am politischen Prozess beteiligt, dessen Ziele Pluralismus und Demokratie seien. Doch zu seinen Koalitionsgesprächen hat Ghannouchi zwei wichtige Kräfte nicht eingeladen, weil sie unter Ben Ali nicht legal waren: die Kommunisten und die Islamisten der Bewegung An-Nahda. Letztere konnten laut Umfragen vor zwei Jahrzehnten, da sie noch als "Unabhängige" eine begrenzte Aktivität entfalten durften, mit 15 bis 20 Prozent der Wähler rechnen.
Ihr Chef Rached Ghannouchi (nicht verwandt mit dem Premierminister), der mehrere Jahre im Gefängnis verbrachte, bevor er emigrieren konnte, hat in seinem Londoner Exil bereits angekündigt, er werde bald heimkehren. Der Bildung einer Regierung der Nationalen Union stehe er positiv gegenüber. Doch angesichts der Zersplitterung werde es dauern, bis man sich auf ein gemeinsames Gesellschaftsprojekt einigen könne. Wie andere Alleinherrscher hatte Ben Ali sein Gewaltregime damit begründet, dass er Tunesien, Europa und den Rest der Welt vor der Terrorismusdrohung durch die Islamisten schützen müsse. Die Staatskanzleien des Westens, die so taten, als glaubten sie ihm, werden im neuen Tunesien bald wieder mit einer Bewegung des politischen Islam rechnen müssen. Die Strukturen an der Basis konnte Ben Ali nicht völlig ausrotten.
Eine gewisse Hoffnung liegt für die Opposition darin, dass auch das Regime keinen potenten Kandidaten hat. Ben Ali hat immer verhindert, dass Kronprinzen nachwuchsen. Jeder Präsidentschaftsbewerber, der im Zeichen der bisher allmächtigen Staatspartei auftritt, wird zudem auf gewaltige Vorbehalte der Wähler stoßen. Eine zweite Hoffnung besteht im Realismus der Tunesier. Sie möchten Freiheit, aber nicht das Chaos. Die Wirtschaft soll erhalten bleiben, die unentbehrlichen Touristen sollen bald wiederkommen.
Schon während der wochenlangen Unruhen und in den Tagen nach der Flucht Ben Alis hat sich ferner die Einheitsgewerkschaft UGCT als mögliche Keimzelle einer sozial-demokratischen Bewegung gezeigt. Sie war in der Mandatszeit als Ableger linker französischer Gewerkschaften entstanden. Der Staatsgründer Habib Bourgiba hatte sie in seiner sozialistischen Phase zum Staatsinstrument gemacht, bevor Ben Ali die UGCT völlig gleichzuschalten suchte. Es gelang ihm nie vollständig. Bei Streiks, Brotunruhen, Arbeitskonflikten entdeckten die Gewerkschaften immer wieder ihre alte Rolle. Viele der arbeitslosen jungen Leute, die gegen Ben Ali auf die Straße gingen, sind potentielle Wähler einer neuen tunesischen Partei der Linken.