Türkei:Zitrusfrüchte und gelbe Westen

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Bei einem Auftritt in Konya drohte Präsident Recep Tayyip Erdoğan einem TV-Moderator mit einem „Nackenschlag“. Die Opposition ist empört. (Foto: Reuters)

Proteste wie in Frankreich gibt es in der Türkei nicht - kaum jemand wagt derzeit, gegen die Regierung zu demonstrieren. Für Präsident Erdoğan ist das Thema dennoch ein Quell der Erregung.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Vielleicht wird Recep Tayyip Erdoğan irgendwann zu seiner Rechtfertigung sagen, er habe ja nur ein Gedicht zitiert, eines des osmanischen Poeten Hacı Bayram Veli, als er dem türkischen Fernsehmoderator Fatih Portakal drohte: "Halte Maß, sonst wird dir das Volk einen Schlag in den Nacken versetzen." Den Namen des Journalisten nannte Erdoğan nicht. Er sprach nur von "einer Orange, einer Mandarine, einer Zitrusfrucht". Da wussten die Zuhörer auf einer Kundgebung im konservativen Konya sofort, wer das Ziel der Wut ihres Präsidenten war: Portakal ist das türkische Wort für Orange.

Kaum jemand demonstriert. Und sollte es doch jemand wagen, stehen Wasserwerfer bereit

Was hatte der bekannte Moderator, der stets in Anzug mit Krawatte die Hauptnachrichten des türkischen Senders Fox TV präsentiert, getan? Am 10. Dezember hatte er in einer Sendung zu sagen gewagt: "Na los, protestieren wir mal mit einer friedlichen Demonstration gegen die Preiserhöhungen bei Erdgas. Können wir das? Wie viele Menschen werden auf die Straße gehen, angesichts der Angst, verprügelt zu werden? Sagt mir in Gottes Namen, wie viele würden auf die Straße gehen?"

Mehr musste der Moderator gar nicht sagen. Kaum jemand wagt in der Türkei derzeit größere Proteste. Und sollte es doch jemand probieren, am Rand des zentralen Istanbuler Taksim-Platzes stehen zu jeder Zeit Wasserwerfer bereit. Dort ist auch der Gezi-Park, wo vor fünf Jahren wochenlang demonstriert wurde, bis massive Polizeieinsätze den Protest beendeten. Erdoğan kommt immer wieder auf die Gezi-Ereignisse zurück, die Justiz ist bis heute hinter den angeblichen Organisatoren her.

In dem Gedicht von Veli aus dem 14. Jahrhundert heißt es: "Erkenne dich selbst, halte Maß." Die Drohung mit dem Nackenschlag kam später dazu, sie ist im Volksmund wohlbekannt. Einen "Anstandslosen", der das Volk "auf die Straße ruft", nannte Erdoğan - ohne Namensnennung - den Journalisten auch. Die Justiz wisse, wie sie mit solchen Leuten umgehe.

Die größte Oppositionspartei, die CHP, reagierte scharf. "Mehr als unverantwortlich", nannte ihr Abgeordneter Gürsel Tekin Erdoğans Worte. "Niemand kann sich hier wie in einer Bananenrepublik aufspielen." Die Journalistin Selin Girit fragte, "wer wird verantwortlich sein, wenn unserem Kollegen etwas passiert?" Sie erinnerte an die vielen Morde an Journalisten in der Türkei. Ein Kolumnist der regierungsfreundlichen Zeitung Takvim schrieb dagegen: "Wer von gelben Westen träumt, wird mit einem gelben Rock enden." Eine erniedrigende Drohung an Männer, die man im Rock durch die Straßen jagen soll. Şahan Gökbakar, einer der Comedy-Stars der Türkei, wiederum postete das Foto einer Orange auf Instagram und den Text: "Orangen sind großartige Früchte, besonders im Winter. Sie stärken das Immunsystem. Ich wünschte mir, wir hätten mehr Orangen in unserem Land."

Das Innenministerium in Ankara hat, berichten türkische Medien, angeblich schon prüfen lassen, ob in Geschäften für Berufskleidung der Verkauf von gelben Warnwesten gestiegen ist. Ergebnis: keine beunruhigender Boom. Ob die Geschichte stimmt? Der regierungskritische Wirtschaftsexperte Mustafa Sönmez glaubt, Erdoğans AKP fürchte, bei den Kommunalwahlen am 31. März Stimmen zu verlieren, weil die Arbeitslosigkeit steigt und das Wachstum stagniert. Deshalb habe sie sich "fürs Angstmachen" entschieden. Erdoğan hatte in Konya auch dem CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu gedroht, er werde diesmal "nicht davonkommen", sollte er die Leute auf die Straße rufen.

Die Journalistin Mehveş Evin fragt sich, warum Erdoğan so viel von Protesten rede, wo es doch so gut wie keine gebe? Vielleicht wolle er die Leute ja auf die Straßen treiben, meint die Kommentatorin, "um wieder den Ausnahmezustand zu erklären". Erdoğan hat dazu schon Abschließendes gesagt: Die Türkei, so der Präsident, sei "nicht Paris".

© SZ vom 19.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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