Türkei:Die ganz große Koalition gegen Erdoğan

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Alle gegen Erdoğan: Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu (M.) trifft in Ankara Pervin Buldan und Mithat Sancar, die Führer der prokurdischen HDP. (Foto: Alp Eren Kaya/CHP/Reuters)

In der Türkei stellt die prokurdische HDP keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten auf - sondern unterstützt Kemal Kılıçdaroğlu. Für Präsident Erdoğan wird der Wahlkampf jetzt noch schwieriger.

Von Raphael Geiger, Istanbul

Verfolgt man aktuell die türkischen Nachrichten, könnte man das Land für eine funktionierende Demokratie halten. Da ist eine Opposition, bestehend aus verschiedenen Parteien, deren Vertreter miteinander reden, diskutieren, wie Präsident Erdoğan bei den Wahlen am 14. Mai am besten zu schlagen wäre. Abends laufen Talkshows mit politischen Debatten, überall Meinungen, sehr frei geäußert.

Allerdings liegen zwischen dem demokratischen Alltag und dem Kampf um eben diese Demokratie manchmal keine zwei Stunden. Am Mittwoch war das mal wieder so.

Am Dienstag hatte sich Kemal Kılıçdaroğlu, der Kandidat der Opposition, mit der Führung der prokurdischen HDP getroffen. Die HDP ist nicht Teil des oppositionellen Bündnisses. Dazu gehört neben Kılıçdaroğlus CHP, einer Mitte-links-Partei, auch die nationalistische IYI. Ausgeschlossen, dass diese jemals mit den Kurden der HDP an einem Tisch sitzen würde.

"Wir werden den Faschismus in der Türkei beenden."

Allerdings hatte sich die IYI-Chefin Meral Akşener zuletzt freundlicher geäußert. Sie hatte Kılıçdaroğlu explizit gestattet, die HDP zu besuchen. Sie verkündete, dass die Kurden nächstes Jahr nach dem Regierungswechsel frei ihr Newroz-Fest feiern dürften - das persische Neujahr. Es fand erst diese Woche statt, alles andere als frei. Bei einer Feier in Istanbul nahm die Polizei mehr als 200 Menschen fest.

Am späten Mittwochvormittag verkündeten die beiden Co-Parteichefs der HDP, dass sie bei der Präsidentschaftswahl keinen eigenen Kandidaten nominieren werden. In anderen Worten heißt das, dass sie Kılıçdaroğlu unterstützen. Nicht offiziell als Teil des Oppositionsbündnisses. Aber als Mitglied in der inoffiziellen Allianz mit dem Namen: Alle gegen Erdoğan. "Wir werden", hieß es von der HDP, "den Faschismus in der Türkei beenden." Man werde "gemeinsam siegen".

Bisher hält er sich im Wahlkampf zurück: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. (Foto: Burhan Ozbilici/AP)

Es klang wie das Statement einer Partei im Wahlkampf. Dabei ist noch nicht mal klar, ob die HDP überhaupt an den Wahlen teilnehmen darf. Die steckt mitten in einem juristischen Verfahren, in dem es um ihre Existenz geht. Die Staatsanwaltschaft will die HDP verbieten lassen, weil sie der politische Arm der PKK sei. Das sehen in der Türkei viele so, und tatsächlich hat sich die HDP nie ganz von der PKK distanziert. Am Morgen, weniger als zwei Stunden vor der Erklärung der Parteichefs, hatte das türkische Verfassungsgericht eine Beschwerde der HDP abgewiesen. Die hatte darum gebeten, die mündliche Verhandlung zu verschieben. Auf die Zeit nach den Wahlen. Das Gericht lehnte die Beschwerde einstimmig ab.

Es könnte also passieren, dass die HDP noch vor Wahl aus der politischen Landschaft verschwindet. Verboten von einer Justiz, die schon lange nicht mehr unabhängig ist. Die Kurden haben Erfahrung mit solchen Versuchen, sie mundtot zu machen. Sie verfügen deswegen über eine Zweitpartei, die "Yeşil Sol Parti", dem Namen nach grün und links, auf deren Liste sie notfalls ins Parlament einziehen wollen. Ganz früher haben das Erdoğans Islamisten so gemacht, deren Parteien auch immer verboten worden waren. Und sich nach dem Verbot stets unter neuem Namen neu gründeten.

Der Präsident hat die Wahl zum Votum über sich gemacht

Dank der Unterstützung der Kurden jedenfalls sind Kemal Kılıçdaroğlus Chancen bei den Wahlen noch größer geworden. Dem früher belächelten Oppositionsführer ist ein politisches Kunststück gelungen, er hat die größtmögliche Koalition geschaffen. Aus Leuten, die nicht miteinander an einem Tisch Platz nehmen würden, die sich gegenseitig nur Faschisten und Terroristen nennen. Die sich aber in einem Punkt einig sind: Es soll jemand Neues die Führung im Land übernehmen.

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Präsident Recep Tayyip Erdoğan hält sich im Wahlkampf bisher zurück. Wahrscheinlich wird er bald versuchen, das Bündnis der Opposition mit den Kurden für sich auszunutzen. Er wird Kılıçdaroğlu als Kurdenfreund darstellen, sprich als halben Vaterlandsverräter. Ob das bei den Wählerinnen und Wählern verfängt, ist fraglich. Denn Erdoğan hat Wahlen in der Türkei zu Abstimmungen über sich selbst gemacht, dazu hat er eigens die Verfassung geändert und ein Präsidialsystem eingeführt.

Es war vielleicht der größte taktische Fehler seines Lebens. Parteien kann man verbieten, Wähler nicht. Falls die HDP geschlossen werden sollte, säße sie zwar nach dem 14. Mai nicht mehr im Parlament. Ihre Anhängerinnen und Anhänger dürften aber trotzdem an der Präsidentschaftswahl teilnehmen, der entscheidenden Wahl angesichts der Machtfülle des Präsidenten.

Der Wahl, bei der es nur um Erdoğan geht. Oder eben, so sieht es derzeit aus: gegen ihn.

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