Türkei:Prozess wegen Erdoğan-Tweets

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Anwalt und Angeklagter: Veysel Ok hat den Journalisten Deniz Yücel verteidigt, am Donnerstag stand er in Istanbul selbst vor Gericht, wegen „Beleidigung der Justiz“. (Foto: Lefteris Pitarakis/AP)

Ein deutscher Mitarbeiter der Naumann-Stiftung steht in der Türkei vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, im Nachrichtendienst Twitter Präsident Erdoğan beleidigt zu haben.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Auf dem Briefkopf der Stiftung, für die Aret Demirci in Istanbul arbeitet, steht auf Deutsch "Für die Freiheit". Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung hat seit Langem ein Büro in der Stadt am Bosporus. Demirci erstellt dort politische Analysen. In der Nacht vom 24. auf den 25. Juni 2018 holte ihn die Polizei aus dem Bett und steckte ihn im Keller des Polizeipräsidiums in eine Zelle. Demirci, 37 Jahre alt, hat einen deutschen Pass, keinen türkischen. Er ist heute noch froh, dass seine Frau und sein kleiner Sohn in jener Nacht beim Schwiegervater in Alanya waren und nicht mitgekriegt haben, wie er abgeholt wurde. Seit Donnerstag steht der Naumann-Mitarbeiter in Istanbul vor Gericht, der Vorwurf: Präsidentenbeleidigung.

Bevor verhandelt wird, muss Demircis Anwalt, Veysel Ok, sich aber erst selbst verteidigen - in einem anderen Saal des Justizpalasts. Er ist angeklagt wegen "Beleidigung der Justiz", weil er in einem Interview gesagt hat, die türkische Justiz sei nicht unabhängig. Ok hat auch den deutsch-türkische Journalisten Deniz Yücel verteidigt, der in der Türkei ein Jahr in Untersuchungshaft saß. Die Prozesse der Pressekammer, vor der Ok als Angeklagter steht, sind im Fünf-Minuten-Abstand angesetzt. Ein Urteil fällt nicht, es wird vertagt.

Gegen Demirci wird dann vor einer anderen Kammer verhandelt, sein Anwalt hat dazwischen Zeit für eine Zigarette. Aret Demirci hatte am 23. Juni, einen Tag bevor er festgenommen wurde, einen Tweet abgesetzt. Er nannte Präsident Recep Tayyip Erdoğan "başcalan", übersetzt etwa "Obergauner", klingt ähnlich wie "başbakan", das heißt Ministerpräsident. Das war Erdoğan 2013 noch, als das böse Wortspiel im Internet erstmals auftauchte. Damals gab es Korruptionsvorwürfe gegen den Premier. Erdoğan bestritt alles und machte den Prediger Fethullah Gülen, damals schon ein Erzfeind, für die Anschuldigungen verantwortlich. Demirci beteuerte später, er habe nicht gewusst, dass das Wortspiel zum Vokabular von Gülen-Anhängern gehörte. Er habe sich nur darüber aufgeregt, dass damals alle großen TV-Sender - einen Tag vor der Präsidentenwahl - Erdoğans Kundgebung in Istanbul übertrugen, und keiner die zur selben Zeit stattfindende der Opposition. Das sagt er auch vor Gericht.

Zehntausende Ermittlungen liefen in den letzten Jahren wegen Beleidigung des Präsidenten

Schon eine halbe Stunde nachdem er seinen Tweet geschrieben hatte, bekam Demirci einen Anruf von seinem Chef, dem Projektleiter der Stiftung in Istanbul. Der sagte, ein Abgeordneter von Erdoğans Partei AKP habe ihn angerufen und mit Konsequenzen gedroht. Demirci hat seinen Tweet dann sofort gelöscht. "Etwa eine Stunde" sei der Tweet nur zu lesen gewesen, sagt er auf Nachfrage des Richters. Und Demirci beruft sich auf das Recht der freien Meinungsäußerung.

Die Naumann-Stiftung, wie alle deutschen Stiftungen in der Türkei wegen ihrer Kontakte zur Zivilgesellschaft unter besonderer politischer Beobachtung, hoffte zunächst, eine Anklage sei zu vermeiden und suchte keine Öffentlichkeit für den Fall. Die Bundesregierung setzte sich unterdessen in Gesprächen mit der türkischen Regierung auch für Demirci ein. Womöglich wurde deshalb die Ausreisesperre, die ein Haftrichter verhängte, vor etwa einem Monat aufgehoben. Der Haftrichter hatte ihn auch nach einer Nacht in der Zelle schon wieder freigesetzt. Zuvor hatte er ihn noch nach seinem armenischen Vornamen befragt. Für Präsidentenbeleidigung sind mehrjährige Haftstrafen möglich, sie können in Geldstrafen umgewandelt und zur Bewährung ausgesetzt werden. Das Gericht vertagt sich auch im Fall Demirci, bis 8. Oktober. Demirci hatte gehofft, nicht so lange warten zu müssen, er spricht von "psychologischem Druck" wegen der Ungewissheit, was nun kommt. Sein Anwalt hat Freispruch beantragt. In der Türkei ziehen sich viele ähnliche Prozesse inzwischen über Monate oder Jahre hin.

Der Juraprofessor Yaman Akdeniz von der Istanbuler Bilgi-Universität hat für die ersten drei Jahre der Präsidentschaft von Erdoğan (ab August 2014) fast 70 000 Ermittlungen wegen Präsidentenbeleidigung gezählt. In fast 13 000 Fällen kam es zur Anklage, 3414-mal endeten Prozesse mit Strafen, 2550-mal wurde eine Aufschiebung des Urteils beschlossen, 1697-mal ein Freispruch. "Etwas Ähnliches gibt es nirgendwo sonst auf der Welt", zitierte die oppositionelle Zeitung Cumhuriyet den Juristen. Neuere Zahlen sind nicht bekannt.

Am Donnerstag ist im Verfahren gegen Demircis Anwalt Veysel Ok auch der New Yorker Jurist Dave Heller als Prozessbeobachter dabei, für die neue "Clooney Foundation for Justice". Gegründet wurde die von dem US-Schauspieler George Clooney und seiner Frau Amal, einer Juristin. Im Saal ist es so voll, dass Freunde und Kollegen des Angeklagten auf dem Boden sitzen müssen. Auch das ist türkischer Gerichtsalltag.

© SZ vom 22.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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