Türkei:Das Beben und die Wahl

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Noch immer werden im Südosten der Türkei Menschen aus den Trümmern geborgen, aber es werden weniger. (Foto: Nir Elias/Reuters)

Während letzte Überlebende aus den Trümmern geborgen werden, bahnt sich ein politischer Streit über die Verschiebung der Wahlen im Mai an.

Von Raphael Geiger, München

In der Provinz Adıyaman zogen die Retter einen jungen Mann aus den Trümmern, lebend, 199 Stunden nach dem Erdbeben. In der 201. Stunde befreiten sie eine Frau in der Provinz Hatay. In Kahramanmaraş wartete eine andere mit Tochter und Enkeltochter auf Rettung, noch verschüttet, noch am Leben. Am Dienstag waren die Helfer dabei, einen Tunnel zu den dreien zu graben. "Ich habe das Gefühl", sagte einer von ihnen, "dass wir sie erreichen."

So geht das gerade in den türkischen Nachrichten, Wunder im Stundentakt. Hoffnung, wenigstens ein bisschen. Denn es sind Einzelfälle, mehr nicht. Atempausen, die das Land braucht, inmitten der Tragödie. Während das Fernsehen die blassen Gesichter der Geretteten zeigt, die acht Tage kaum getrunken haben, verstummen mehr und mehr Stimmen unter den Ruinen. Die Zahl der Toten steigt noch immer, bei mehr als 37 600 stand sie zuletzt. Die UN schätzen, es könnten 50 000 Menschen ums Leben gekommen sein. Dazu kommen im Moment mehr als 85 000 Verletzte.

Trauer schlägt in Wut um

In diesen Tagen ist die Türkei ein aufgewühltes Land. Da ist die Trauer, da sind die Beerdigungen, bei denen die Menschen seit Tagen so begraben werden wie nach einem Luftangriff im Kriegsgebiet. Schnell und anonym. Da ist die Scham, etwa von Journalisten, die in der Katastrophenregion im Einsatz waren und berichten, wie sie an den Ruinen vorbeischlichen, wie sie Hilferufe hörten und nichts tun konnten.

Da ist inzwischen auch offene Wut. Vor allem auf die Bauunternehmer, deren Gebäude offensichtlich nicht erdbebensicher gebaut waren - wie eine Luxuswohnanlage in Hatay, vor zehn Jahren fertiggestellt, jetzt nur noch ein Haufen Schutt. Der verantwortliche Bauherr wurde auf der Flucht verhaftet, er soll angeklagt werden. Dabei ist jedem im Land klar, dass der Mann nur einer von sehr vielen ist. Die Türkei war in den vergangenen Jahren eine einzige Baustelle, das Tempo beim Bau oft imponierend schnell. Gefährlich schnell.

Mancherorts richtet sich die Wut auch gegen die Geflüchteten im Land, vor allem die etwa vier Millionen Syrerinnen und Syrer. Aus Hatay kommt ein Video, das Männer beim Rufen von antisyrischen Sprechchören zeigt. Es mehren sich die Berichte von Syrern, die erzählen, dass man sie in den Zeltlagern der Katastrophenhilfe nicht aufnehmen wolle. Einer sagte, er mache einen Bogen um Rettungseinsätze, weil er die Menschenmengen dort fürchte.

Aus der regierenden AKP von Präsident Erdoğan kommen währenddessen erste Stimmen, die eine Verschiebung der Wahlen fordern. Am 14. Mai sollen der Präsident und das Parlament neu gewählt werden. Der Erdoğan-Weggefährte Bülent Arınç spricht von einem neuen Termin im November, also ein halbes Jahr später. Am liebsten, so Arınç, sei ihm gleich das Jahr 2024. Man könne in den Erdbebengebieten schlicht keine Wahlen abhalten, heißt es. Das mag nicht falsch sein, die Opposition vermutet trotzdem ein wahltaktisches Manöver.

Der Ausnahmezustand hat Einfluss auf den Wahlkampf

"Nur im Kriegsfall sieht die Verfassung eine Wahlverschiebung vor", sagte Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu. "Wir sind nicht im Krieg." Die AKP wolle die Wahlen "vermeiden", weil sie um die Marcht fürchte. Dabei macht sich Kılıçdaroğlu offenbar keine Illusionen darüber, wer in der Türkei einen Wahltermin festsetzt. "Es ist beschämend, dass die Justiz zum Hinterhof einer Partei geworden ist." Gemeint ist die AKP und wie sie Einfluss auf die Wahlbehörde nimmt.

Eigentlich wollte das Bündnis der Oppositionsparteien schon am Montag seinen Präsidentschaftskandidaten bekannt geben. Angesichts der Erdbeben verschob man den Termin - sollten die Wahlen im Mai stattfinden, bleibt der Opposition aber nicht mehr viel Zeit. Ohnehin wird es ein Wahlkampf in Zeiten des Ausnahmezustands. Den hat Erdoğan in den betroffenen Provinzen ausrufen lassen, was ihm unter anderem erlaubt, Versammlungen zu verbieten oder die Pressefreiheit einzuschränken.

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Damit sollen "Provokationen" bekämpft werden, wie der Präsident es nennt. Und vielleicht auch die Wahlkampagne der Opposition. Ein Abgeordneter der oppositionellen CHP musste beim Besuch im Erdbebengebiet gerade in sein Auto flüchten, während eine Erdoğan-treue Menge ihm genau das lautstark vorwarf: Provokation.

Es kommt in der Türkei nun darauf an, welche politische Seite den richtigen Ton trifft. In diesen Tagen zwischen Trauer und Wut und der Hoffnung auf letzte Wunder. Wem das gelingt, der könnte das Land bald regieren. Die Boulevardzeitung Hürriyet immerhin schlug einen friedlichen Ton an, und das gegenüber Griechenland. Wenn es um die Griechen geht, kann es in der Türkei sonst nicht scharf genug sein. Am Dienstag zeigte die Hürriyet auf ihrer Titelseite das Bild eines griechischen Helfers und eines Türken. Die beiden umarmten sich. Auf Griechisch und auf Türkisch stand darüber: Vielen Dank, Freund.

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