Türkei:Die Überlebensfrage

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Ein Blick auf Bursa: In der viertgrößten Stadt der Türkei lassen zahlreiche große Autobauer fertigen. Obwohl die Arbeitslosigkeit im Vergleich zu anderen Teilen des Landes niedriger ist, sind auch hier Menschen auf subventionierte Lebensmittel angewiesen. (Foto: Altan Gocher/imago)

In der Türkei stehen Kommunalwahlen an, gerade in konservativen Hochburgen wie der Stadt Bursa wäre eine Niederlage für Präsident Erdoğans Partei ein schwerer Schlag.

Von Christiane Schlötzer, Bursa

Der Uludağ, der doch eigentlich schneebedeckt sein sollte, verschwindet im Nebel. Es regnet in Bursa, der mächtige Berg, 2542 Meter hoch, wirkt wie gekappt. In einem großen Gemeindesaal legen die Menschen ihre Winterjacken auf die Stühle. Auf der Bühne des Auditoriums steht ein Mann, allein. Er heißt Mustafa Bozbey, ist 57, war 20 Jahre lang Bezirksbürgermeister in einem Stadtteil von Bursa. Am 31. März will er die ganze Stadt erobern, für die Opposition, die säkulare Partei CHP. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die landesweiten Kommunalwahlen zur "Überlebensfrage" für die Türkei erklärt, er tritt jeden Tag in einer anderen Stadt auf, auch drei mal in 24 Stunden.

Aber in Bursa gehört die Bühne jetzt Mustafa Bozbey: schwarzer Anzug, Figur wie ein Ringer, klein und kompakt, feste Stimme. Bozbey redet von Grünanlagen, öffentlichem Nahverkehr, sanftem Tourismus, Mikrokrediten für Frauen - und kein Wort über den politischen Gegner. Die CHP hat sich in Bursa vorgenommen, ausnahmsweise einmal auch die übelsten Beschimpfungen der regierenden AKP ohne viel Widerrede zu ertragen. In der Hoffnung, so aus Erdoğans Schatten zu treten, der die Politik im Land seit 17 Jahren dominiert.

Fast nichts ist absurd genug, als dass es nicht geglaubt würde, wiederholt man es nur oft genug

Während Bozbey billige Trambahntickets verspricht, schimpft ein paar Kilometer entfernt Innenminister Süleyman Soylu in Bursa über die Opposition. Soylu wirft der CHP vor, sie lasse sich von "Terroristen" helfen, wofür Allah die gerechte Strafe geben möge. Weil die legale kurdische Partei HDP in Bursa und in mehreren anderen großen Städten keinen eigenen Kandidaten aufgestellt hat. Damit signalisiert sie ihren Anhängern, für die CHP zu stimmen. Das könnte mancherorts wahlentscheidend sein. Ein formales Bündnis zwischen den Parteien gibt es nicht, der Regierung aber genügt das für den pauschalen Terrorvorwurf, da die HDP sich ihrer Meinung nach nicht genug von der illegalen, militanten kurdischen PKK distanziert.

Die AKP lässt sich auch helfen, ganz offiziell, von der ultranationalistischen MHP. Deren Vizechef in Bursa, Ibrahim Öge, ist Chefredakteur der Lokalzeitung Yeni Dönem. Hinter seinem Schreibtisch hängt ein großes Portrait von Republikgründer Atatürk, der den Laizismus in die Verfassung schrieb. Die MHP war lange eine harte Kritikerin der islamisch-konservativen AKP, nun hilft sie ihr, an der Macht zu bleiben. Ohne die Unterstützung der MHP wäre Erdoğan gar nicht Präsident geworden. Wieso der Sinneswandel?

Öge richtet sich in seinem Sessel auf, ein breitschultriger Mann mit Dreitagebart, er sagt: Nach dem Putschversuch von 2016 habe sich die Haltung der Partei geändert. "Wir wollen, dass der Staat auf seinen Beinen bleibt." Die MHP sei aber "kein Partner der Regierung". Öge, 48, will von einer Wirtschaftskrise nichts wissen, trotz der landesweiten Arbeitslosigkeit von 13,4 Prozent. "Wir haben eine Enge", sagt er, "keine Krise." 4,3 Millionen Türken sind ohne Arbeit - rund eine Million mehr als vor einem Jahr. Schuld daran sei, sagt der Journalist, in erster Linie die "globale Entwicklung". Der Regierung könne man nur vorwerfen, dass sie "zu viel auf Beton gesetzt hat". Die entsprechenden Leute seinen aber nicht mehr im Amt. Wie das? Erdoğan eröffnet doch jeden Tunnel und jede Brücke persönlich? "Erdoğan", sagt Öge, "ist ein Führer", kein Wirtschaftsexperte.

Von draußen dringt Straßenlärm in Öges Büro. Bursa ist von Autoschneisen durchzogen. Die Stadt ist ein wichtigstes Industriezentrum der Türkei. Hier bauen Bosch, Renault, Citroën und Fiat Autos oder fertigen Fahrzeugteile. Die Arbeitslosigkeit ist mit 12, 3 Prozent etwas geringer als im Landesdurchschnitt. "Die Türkei hat großes wirtschaftliches Potenzial", sagt er, die meisten Wähler wüssten "sowieso, was der Grund für den Engpass ist, die Türkei wird allein gelassen". Von Europa, vom Westen, wo man Gülen-Anhängern Asyl gewähre. Der Prediger Fethullah Gülen, der in den USA im Exil lebt, wird von Erdoğan für den Putschversuch von 2016 verantwortlich gemacht. Deutschlands Haltung könne man hier gar nicht verstehen, sagt Öge, schließlich sei "in jüngerer Zeit auch in der deutschen Armee ein Putschversuch enthüllt worden." Wirklich? "Da gab es doch viele Berichte", sagt er.

Erdoğan setzt auf drastische Rhetorik im Wahlkampf - weil es vielerorts knapp werden könnte?

Fast nichts ist absurd genug, als dass es nicht geglaubt würde, wiederholt man es nur oft genug. Im Zentrum Bursas hat die Frauenvereinigung der AKP einen Stand. Dort sagt Nebiye Soypak, grünes Kopftuch, eleganter grauer Mantel, warum sie AKP wählt: "Damit die Türkei kein Spielball der USA wird." Und: "Weil wir den Ezan verteidigen", den Gebetsruf. Erdoğan hatte Hunderten Frauen in Istanbul vorgeworfen, "mit Pfiffen" den Ezan gestört zu haben, als die Polizei ihren Protestmarsch am 8. März mit Gewalt auflöste. Erdoğan nannte die Demonstrantinnen Feinde von Religion und Nation. Die Organisatorinnen haben eine bewusste Störung des Gebetsrufs bestritten, aber der Präsident wiederholt seinen Vorwurf immer wieder. Auch aus dem Video des Todesschützen von Christchurch zeigt er bei seien Auftritten einige Sekunden, trotz Kritik aus Neuseeland. Erdoğan emotionalisiert, wo er kann - weil es vielerorts knapp werden könnte?

In Bursa zum Beispiel. Die viert größte Stadt der Türkei mit knapp drei Millionen Einwohnern gilt als konservative Hochburg. Sollte die AKP hier verlieren, wäre das ein peinlicher Verlust, nicht ganz so heftig wie eine Niederlage in Istanbul oder Ankara, aber ein Schlag. Schließlich war Bursa die erste Hauptstadt der Osmanen, vor knapp 700 Jahren, und die Gründer der Dynastie sind hier begraben. Ihre prächtigen Mausoleen sind Wallfahrtsorte, an denen Menschen im Gebet verharren.

Der Dichter Nazım Hikmet bekam kein Grab in seinem Land, er wurde verjagt und starb 1963 in Moskau im Exil. Aber fast jeder Türke kennt seine Zeilen: "Leben wie ein Baum, einzeln und frei, doch brüderlich wie ein Wald". In Bursa gibt es ein "Nazım Hikmet Kulturhaus". Alinur Aktaş, den OB-Kandidaten der AKP, stört das. Er erklärte den Poeten zum Staatsfeind. Straßen und Plätze sollte man lieber nach Sultanen benennen, sagte Aktaş, der vergaß, dass die Türkei ihrem weltbekannten Dichter 2009 posthum die Staatsbürgerschaft zurückgab. Aber das waren andere Zeiten. Das "Kulturhaus" steht im Stadtteil Nilüfer, es ist ein moderner, hochaufragender Bau mit einer Gedichtbibliothek, die spät am Abend noch geöffnet ist. Nilüfer ist Bozbeys Bezirk. Niemand habe die Namensgebung bislang kritisiert, sagt der CHP-Mann, wenn man ihn danach fragt. Die Erinnerung an Nazım Hikmet sei "wertvoll", sagt er und fügt schnell hinzu: "Auch die an die Osmanen." Das historische Erbe will Bozbey nicht den Konservativen allein überlassen. Es ist das einzige Mal, dass er kurz über seine Gegner spricht.

In einem der ärmeren Stadtteile steht auf einer Wiese ein großes weißes Zelt. Dort gibt es günstige Kartoffeln, Tomaten, Gurken. Viele Bürger klagen über die hohen Lebensmittelpreise in den Supermärkten, nun subventioniert die Regierung Gemüse, die Stadt stellt das Zelt. "Zwiebeln sind schon aus", sagt ein Mann mit langem grauen Bart, der an einem Absperrgitter lehnt, "und bald wird alles weg sein." Die Schlange vor dem Zelt ist noch lang, die meisten Frauen, die hier einkaufen wollen, tragen Kopftuch und lange Mäntel.

Bei Bozbeys Auftritt im Saal sieht man nur wenige bedeckte Köpfe. Am Ende des Vortrags, nachdem der Kandidat viele neue Fahrradwege und Parkplätze versprochen hat, schickt er mit einem Mausclick das Foto eines Jungen auf die riesige Videowand, in Schwarzweiß. "Ich wünsche mir einen Job für meinen Vater und für mich einen Computer", sagt das Kind. "Unser eigentliches Problem sind diese Menschen", sagt Mustafa Bozbey. Ende der Vorstellung. Das Licht geht aus.

© SZ vom 21.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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