Türkei:Der Denunziant von nebenan

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Weil ihn sein Nachbar aus Deutschland bei der türkischen Polizei angeschwärzt hat, saß ein Türke aus Nordrhein-Westfalen 14 Monate wegen "politischer Verdächtigung" in Haft.

Von Christiane Schlötzer und Reiko Pinkert, Istanbul

Bei der Einreise in die Türkei wurden schon häufiger Deutsche mit türkischen Wurzeln festgenommen. Präsidentenbeleidigung, Unterstützung einer Terrororganisation, so lauten die Vorwürfe meist. Wie sie ins Visier der Ermittler gerieten, können sich die wenigsten erklären. In einem Fall ist das jetzt klar. Ein 62-jähriger Türke, ein Facharbeiter aus einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt, wurde von seinem türkischen Nachbarn angeschwärzt. Dies belegen Gerichtsakten, die NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung vorliegen. Der Mann hat 14 Monate in einem Gefängnis in der Türkei verbracht.

Er war im April 2018 eingereist und wurde im Juni 2019 aufgrund von Facebook-posts zu mehr als eineinhalb Jahren Haft verurteilt. Inzwischen ist er wieder in Deutschland. Und er hat den Denunzianten angezeigt, wegen "politischer Verdächtigung". Die ist nach § 241a StGb strafbar, wenn der Verdächtigte damit der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt wird.

Der andere Türke wusste, dass sein Nachbar aus der zentralanatolischen Provinz Kırşehir stammt, denn er rief direkt beim dortigen Polizeipräsidium an. Es gibt auch eine türkische Polizei-App, mit der man "Verdächtige" melden kann, Einbrecher wie angebliche Terroristen. Wie oft sie benützt wird, ist unbekannt. Der Anrufer teilte der Polizei mit, in welcher Stadt in NRW er lebe, und beschuldigte seinen Bekannten, in sozialen Netzwerken die kurdische PKK zu loben. Die PKK gilt in der Türkei wie in Deutschland als Terrororganisation. Auf dem Facebook-Account des Mannes befanden sich laut Urteil Fotos seiner Töchter in kurdischer Tracht, ein Bild mit dem Konterfei des inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan und Fahnen in den kurdischen Farben Rot, Gelb, Grün. Bei seiner Vernehmung sagte der Mann, die Kleidung seiner Töchter habe er vor längerer Zeit in einem H & M Laden in der Türkei gekauft. Das Öcalan-Foto stamme von einer Veranstaltung zum kurdischen Neujahr, und der Facebook-Account sei von seiner ganzen Familie benutzt worden. Das Gericht verurteilte ihn wegen "Terrorpropaganda". Wegen der langen Untersuchungshaft wurde er auf freien Fuß gesetzt und abgeschoben. Nachbarn sind die beiden heute nicht mehr. In der Anzeige, die der Anwalt des Mannes, Berthold Fresenius, bei der Staatsanwaltschaft Hagen eingereicht hat, heißt es, die Postings seien in Deutschland keine Straftat. In der Türkei aber könnten sie zu "politischer Verfolgung" führen.

© SZ vom 20.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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