Proteste in Tschechien:Europa ist geteilt in Ost und West? Ein gefährlicher Irrtum

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Eine Viertelmillion Tschechen geht nicht nur gegen ihren Premierminister auf die Straße - sondern auch für Europa. Es sind die größten Proteste seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft. Warum interessiert das niemanden?

Kommentar von Daniel Brössler

Ein junger Mann, gehüllt in die blaue Europafahne mit den goldenen Sternen, steht auf einem Dach hoch über Prag und blickt herab auf eine riesige, eine unübersehbare Menschenmenge. Das ist eines der Bilder, die der tschechische Fotograf Milan Jaroš von der größten Demonstration gemacht hat, die Prag seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft erlebt hat. Es ist ein Bild von enormer Symbolkraft, und wer es sieht, kann sich eigentlich nur wundern. Wundern darüber, wie lau das Echo bisher ausfällt.

Nicht bei Tschechiens der Korruption beschuldigtem Premierminister Andrej Babiš . Es war klar, dass er versuchen würde, über den Massenprotest hinwegzugehen. Wundern muss man sich, dass die Bilder nicht viel mehr Eindruck in Europa machen. Vor allem in Deutschland. Eine Viertelmillion Tschechen ist schließlich nicht nur gegen Babiš auf die Straße gegangen, sondern auch für Europa.

Eine Viertelmillion - gemessen an der Bevölkerungszahl entspräche das in Deutschland einer Demonstration von zwei Millionen Menschen. Zum Vergleich: Zur Unteilbar-Kundgebung gegen Rassismus in Berlin waren im Oktober 2018 240 000 Teilnehmer gekommen. Allein die Zahl der Tschechen, die unter tschechischen und europäischen Fahnen demonstriert haben, sollte also genügen, um sich von dem gefährlichen Irrtum zu verabschieden, dass durch Europa wieder eine neue, alte Grenze verläuft: nämlich zwischen Ost und West.

Massenproteste in Tschechien
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In Prag fordern Hunderttausende den Rücktritt von Regierungschef Andrej Babiš, gegen den strafrechtliche Ermittlungen laufen. Babiš lässt verlauten, die Leute hätten ein Recht zu demonstrieren - aber keinen Grund.

Von Viktoria Großmann

Dieser Irrtum hält sich besonders hartnäckig, weil er außerordentlich bequem ist. Er beruht auf der Vorstellung, dass viele Probleme in der Europäischen Union ihre Ursache darin haben, dass die EU sich zu schnell oder - wie manche finden - überhaupt erweitert hat. Aus dieser Perspektive krankte die Aufnahme der früheren Ostblockstaaten an einem großen Missverständnis. Angeblich bestand es darin, dass die Menschen in Polen, Tschechien, Ungarn und den anderen Ländern des Ostblocks gar nicht wirklich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im westlichen Sinne wollten, sondern nur westlichen Wohlstand.

Die europäischen Werte sind keineswegs nur westliche

Die Hartherzigkeit in der Flüchtlingskrise, der Erfolg von Autokraten und Populisten, die grassierende Korruption - das alles schien in dieses Bild zu passen. Politologen wie der Bulgare Ivan Krastev lieferten mit der These, die Osteuropäer seien es leid, den Westen zu imitieren, dazu den wissenschaftlichen Unterbau.

Nicht nur eine Viertelmillion Tschechen haben jetzt gezeigt, dass es so einfach nicht ist. Auch die Wahl von Zuzana Čaputová zur Präsidentin der Slowakei , einer liberalen Kämpferin gegen die Korruption, und die passablen Ergebnisse proeuropäischer Kräfte etwa in Polen beweisen, dass die Grenzen zwischen Anhängern und Gegnern der offenen, liberalen Gesellschaft in Europa nicht zwischen Ost und West, sondern sehr viel unübersichtlicher verlaufen. Italien liegt im Westen, aber dort ist der Demagoge und Rechtspopulist Matteo Salvini an der Macht. In Frankreich ist der Kampf zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen keineswegs entschieden. Und in Deutschland feiert die AfD ihre Erfolge vor allem im Osten, aber eben nicht nur dort.

Außerdem sind die europäischen Werte keineswegs nur westliche. Sie sind auch die der polnischen Gewerkschaft Solidarność oder der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung Charta 77. Die Menschen auf den Straßen von Prag kämpfen auch um dieses Erbe. Bisher sieht es nicht danach aus, dass sie ihr vorrangiges Ziel - einen Rücktritt von Ministerpräsident Babiš - schnell erreichen werden. Würde demnächst im Westen etwas weniger überheblich über die EU-Bürger im Osten gesprochen, wäre aber auch das schon ein Erfolg.

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Eine Viertelmillion Tschechen sind am Wochenende gegen den amtierenden Premierminister Andrej Babiš auf die Straße gegangen. Tschechiens Premierminister ist unter Druck: Die EU-Antibetrugsbehörde hat festgestellt, dass Babiš rund 1,64 Millionen Euro an Subventionen aus Brüssel zu Unrecht erhalten habe.

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