"Wir leben in der Bundesrepublik Deutschland in einer merkwürdigen Vergesslichkeit. Manchmal habe ich den Eindruck, als hätte 1941 die Sowjetunion das Deutsche Reich überfallen und nicht umgekehrt." Dies sagte der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Heinrich Albertz, schon im Jahr 1980. Jürgen Zarusky hat diesen Satz gern zitiert. Der Historiker am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München hatte es sich zu einer seiner Hauptaufgaben gemacht, durch seine Forschung und seine publizistische Tätigkeit, diese auch heute noch bestehenden Wissenslücken zu beheben und verdrängte Wirklichkeiten im Umgang mit Russland ans Licht zu holen. Im März 2019 starb Zarusky nach kurzer Krankheit im Alter von 60 Jahren.
Nun sind zwei Aufsatzsammlungen von und mit ihm erschienen, die gerade zum 80. Jahrestag des Überfalls des NS-Staats auf die Sowjetunion die Lektüre sehr lohnen. Angesichts der Dimensionen dieses Vernichtungskriegs attestiert Zarusky (und damit ist er nicht allein) der deutschen Erinnerungskultur ein schweres Defizit. "Wenn Hitlers Kernprojekt und seine Folgen für die davon betroffenen Menschen bislang allenfalls fragmentarisch im historischen Bewusstsein präsent sind, dann gibt es für eine Gesellschaft, die - jedenfalls in ihrer weit überwiegenden Mehrheit - den Anspruch erhebt, Verantwortung für die Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur zu übernehmen, noch viel zu tun."
Der Gedenkstätte Dachau war er verbunden
Formuliert hat er das als wissenschaftlicher Leiter des Dachauer Symposiums zur Zeitgeschichte 2018, das sich mit dem deutsch-sowjetischen Krieg 1941 - 1945 befasste; er wollte mit der Tagung in dieses für die postsowjetischen Staaten und Deutschland so wichtige Forschungsfeld "ein wenig neue Energie einspeisen", wie Sybille Steinbacher, Mitherausgeberin des Aufsatzbands und Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts, schreibt. Mit Dachau - wo er lebte - und der KZ-Gedenkstätte verband ihn seit jeher viel; dass er dort über sein Hauptforschungsfeld Russland sprechen konnte, war ihm ein Anliegen.
Als Chefredakteur der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (seit 2016) und als Publizist - auch auf dieser Rezensionsseite - verstand es Zarusky, komplexe Zusammenhänge verständlich aufzubereiten und mit einer klaren Wertung zu versehen. Was er gar nicht mochte, waren die Vereinfacher und Historiker mit zu verengter Sichtweise, da konnte er schon auch mal deutlich werden, etwa beim viel gerühmten "Bloodlands" von Timothy Snyder über das Wüten der Nazischergen in der Ukraine, das er eher nicht für rühmenswert hielt. Viel lieber empfahl er den wenig bekannten Roman "Leben und Schicksal" von Vasilij Grossmann (1905 - 1964), der die politischen Massenverbrechen Stalins und Hitler klug seziert.
"Ambivalenzen" anerkennen ohne zu relativieren
Als einer der besten Russlandkenner und eifrigsten Archivbesucher hatte sich Zarusky auch auf die beiden großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, das NS-Regime und die stalinistische Epoche, spezialisiert. Immer wieder kreisten seine Überlegungen um die Vergleichbarkeit von Totalitarismus-Modellen. Was ihn besonders besorgte, waren Entdifferenzierung, Tendenzen zur Schematisierung und erinnerungspolitische Instrumentalisierung. Oder noch klarer: "Die Geschichte ist zum Kampfplatz geworden, auf dem identitätspolitisch fundierte Deutungsansprüche zusammenprallen."
Wie all das in Ost- und Ostmitteleuropa zusammenhing und -hängt, wo viele Länder ja von beiden Diktaturen besetzt worden waren, wie sich später belastete Täter zu Opfern stilisierten und wo Erinnerung an Mord, Tod und vielfältige Leiden heute für nationalistische Identitätspolitik genutzt wird - das kann man in einigen dieser klarsichtigen Aufsätze nachlesen.
Zaruskys Petitum war stets ein Geschichtsverständnis, "das Ambivalenzen anerkennt, ohne sich dabei in Relativismus zu flüchten". Darum argumentierte er auch immer wieder gegen den Totalitarismus-Gedenktag für die Opfer beider Diktaturen am 23. August - den Tag des Hitler-Stalin-Pakts. Damit werde suggeriert, beide Diktaturen hätten im gleichen Maße Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg gehabt; so werde jedoch nur die kriegerische Aggressivität des Naziregimes verharmlost, die sowjetischen Opfer würden marginalisiert. Auch aus diesem Grund sei es zu einfach, Putins Geschichtspolitik pauschal zu verdammen.
Beim "elementar Menschlichen" ansetzen
"Jürgen Zarusky verband akribische Quellenkenntnis und Wissenschaft stets mit engagierter Empathie", schreibt der Direktor des IfZ, Andreas Wirsching, in einer Würdigung, die dem Aufsatzband aus dem Nachlass vorangestellt ist. Den sowjetischen Opfern von Krieg und NS-Verfolgung einen angemessenen Stellenwert im gesellschaftlichen Bewusstsein zu schaffen, war Zarusky ein großes Anliegen - sei es bei seinem Engagement für die sogenannten Ghettorentner oder für den Gedenkort "Schießplatz Hebertshausen", wo die SS 4500 Rotarmisten ermordete.
Starre Erklärmodelle und allzu pauschale Kriterien zu Hitlers und Stalins Verbrechen, wie sie derzeit (wieder) in Mode sind, waren Zaruskys Sache nicht. Bei Hannah Arendt und beim "klarsichtigen Menschenfreund" Vasilij Grossmann fand er Vorbilder. Dessen reportagenhafter Roman habe beim "elementar Menschlichen" angesetzt. Genau darum gehe es: "Was dem Einzelnen widerfährt, zählt, und die historischen Kräfte, denen er ausgeliefert ist, sich ausliefert oder widersetzt, müssen sichtbar gemacht und erklärt werden."
Vor allem die Historiker seien gefordert, grobe Umdeutungen und Entlastungsstrategien in Ost- und Ostmitteleuropa offenzulegen. Wie das geht? Eigentlich ganz einfach: "Dazu muss man vieles erzählen und nicht weniger analysieren, also Geschichtsschreibung betreiben."
Die Rede des Bundespräsidenten am Freitag in Berlin-Karlshorst zum 80. Jahrestag des Überfalls hätte Jürgen Zarusky sicher gut gefallen.