Unterdrücken und verschweigen: Die angehende Weltmacht China hat keinen anderen Umgang mit dem Erbe der niedergeschlagenen Protestbewegung von 1989 gefunden. Trotz ihres hohen Alters werden die Tiananmen-Mütter, die sich für eine Aufarbeitung der Ereignisse einsetzen, auf Schritt und Tritt überwacht. Alles, was Zensoren verdächtig vorkommt - seien es Enten in "Panzerformation", Spielkarten mit den Ziffern 6-4-8-9 oder einfach eine Kerze -, wird aus dem Internet getilgt.
Dies alles ist einer Großmacht unwürdig. Aber dieser Umgang ist für die KP eine Frage des Machterhalts. Durch die Niederschlagung der friedlichen Demonstration hat sich Peking des Vertrauens und des Engagements der Bürger beraubt. Seither zählt für die Bevölkerung, dass die Regierung den Wohlstand mehrt - und das Ansehen Chinas in der Welt. Das ganze Land krankt an politischem Opportunismus und moralischem Verfall eines von Peking entfesselten Turbokapitalismus.
Die Wirtschaft kriselt, und internationale Konflikte spitzen sich zu - der Führung bleibt nur die Flucht nach vorn: wirtschaftliche und politische Entkoppelung, wie es jetzt im Handelskonflikt mit den USA heißt, und ein aggressives "China first".
Im Inneren gärt Unzufriedenheit. Arbeiter kämpfen für ihre Rechte, Studenten unterstützen sie. Veteranen fordern bessere Versorgung, geprellte Konsumenten verlangen höhere Entschädigungen. LGBT-Aktivisten protestieren gegen Kriminalisierung, Wissenschaftler brechen ihr selbstauferlegtes Schweigen. Und Unternehmer bringen Familien und Vermögen außer Landes. Nichts davon hat das Potenzial, die Herrschaft der KP zu gefährden. Eine Protestbewegung wie die von 1989 ist in Zeiten von Hightech-Überwachung, mangelnder Überzeugungskraft liberaler Demokratien und Wohlstandsbequemlichkeit unwahrscheinlich. Aber die Unzufriedenheit erinnert die Regierung daran, dass das Volk sie bestenfalls duldet.
Chinas "Stabilität" - mit der im Westen die totalitäre Herrschaft Xi Jinpings schöngezeichnet wird - ist keine. Nationalismus und eine angeheizte antiwestliche Stimmung als Weg aus einer wirtschaftlichen und geopolitischen Krise sind auch für uns keine gute Wahl. Zu sagen, dass eine Niederschlagung der Proteste notwendig war, um das Land stabil zu halten, ist zynisch und kontraproduktiv.
Wir haben zwei Chancen. Die erste ist, Wirtschaft und Politik zusammenzudenken. Fairer Wettbewerb und offene Märkte lassen sich nicht von autonomer Interessenvertretung und Rechtsstaatlichkeit trennen. China reagiert auf Klarheit in puncto Menschenrechte. Es ist mehr Druck auf Unternehmen in puncto menschenwürdige und nachhaltige Produktion und Lieferketten notwendig. Aber es bedarf auch mehr Verantwortung der Konsumenten: Fair hergestellte Güter kosten mehr. Die zweite Chance ist, den Menschen zuzuhören, die auf ein China nach Xi hinarbeiten. Wir sollten ihre Beiträge im Internet lesen und das Gespräch suchen. Ihre Kritik an unseren Systemen sollten wir ernst nehmen. Wir müssen rote Linien definieren und diese auch an die KP-Führung übermitteln. Dies darf jedoch nicht in eine allgemeine antichinesische Stimmung münden.
Verpassen wir diese Chancen, tragen wir eine Mitschuld an Pekings großem Verschweigen der Tiananmen-Toten.
Kristin Shi-Kupfer ist Leiterin des Forschungsbereichs Politik, Gesellschaft, Medien des Mercator Institute for China Studies in Berlin.