Thüringen:Erfurter Mehrheiten

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Darf jemand Ministerpräsident werden, der weniger Ja- als Nein-Stimmen hat? Der CDU-Landeschef hat da seine Zweifel, doch die Verfassung erlaubt Minderheitsregierungen ausdrücklich - und zwar nicht nur in Thüringen.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Es mag irgendwie plausibel klingen, dass niemand Ministerpräsident werden sollte, der mehr Nein- als Ja-Stimmen erhalten hat. Insofern hat Mike Mohring, der Chef der Thüringer CDU-Fraktion, zumindest das gefühlte Demokratieverständnis auf seiner Seite, wenn er verhindern will, dass Bodo Ramelow (Linke) Anfang Februar von einer Landtagsminderheit zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt wird. Also mit den 42 Stimmen von Linken, SPD und Grünen, die vier Stimmen unter der absoluten Mehrheit liegen. "Kein Vereinsvorsitzender wird in Deutschland gewählt, wenn nicht mehr Ja- als Nein-Stimmen vorliegen", meint Mohring. Deshalb hätte er die Zulässigkeit einer Minderheitswahl gern verbindlich geklärt, und zwar vor der Abstimmung. Dabei ist die Sache eigentlich längst klar, demokratisches Gefühl hin oder her. In Artikel 70 der Landesverfassung steht: Wenn zwei Wahlgänge keine absolute Mehrheit der Mitglieder des Landtags bringen, "so ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält". Also mehr als jeder der anderen Bewerber - anders kann man das nicht verstehen. Tritt nur ein Kandidat im dritten Wahlgang an, dann reichen eben 42 Stimmen. Theoretisch reichen auch zwei. "Relative Mehrheit" nennt man das.

Gewiss, Juristen können Worte verdrehen, wenn sie wollen. Aber nicht nur der Wortlaut der Verfassung spricht gegen Mohrings Zweifel. Aus Sicht von Michael Brenner, Rechtsprofessor an der Universität Jena, darf der Landtag nicht auf Dauer daran gehindert werden, die - nach der Landtagswahl weiterhin geschäftsführende - bisherige Regierung durch eine neue zu ersetzen. Darin liegt letztlich der Sinn der im dritten Durchgang abgesenkten Wahlhürde: Der Wählerwille soll sich in einer veränderten Regierung niederschlagen. Denn jede Woche, die seit der Konstituierung des Landtags Ende November ins Land gegangen ist, lässt die Legitimation der alten Regierung dünner werden.

Die "relative Mehrheit" ist zudem keineswegs ein demokratischer Fremdkörper. Wahrscheinlich lassen sich so auch Vereinsvorsitzende wählen - für die Wahl des Bundespräsidenten gilt das auf jeden Fall. Wenn dort in zwei Wahlgängen niemand die absolute Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung erreicht, wird Präsident, wer im nächsten Wahlgang "die meisten Stimmen auf sich vereinigt". Gustav Heinemann, der erste sozialdemokratische Bundespräsident, lag im März 1969 im dritten Wahlgang nur sechs Stimmen vor seinem CDU-Konkurrenten Gerhard Schröder - und ein paar Stimmen unterhalb der absoluten Mehrheit. Wären außer Schröder noch weitere Kandidaten im Rennen gewesen, dann hätte Heinemann vielleicht tatsächlich mehr Stimmen gegen sich als für sich gehabt - und wäre trotzdem Staatsoberhaupt geworden. Ähnlich ist es bei der Wahl der Bundeskanzlerin: Auch dort kann im dritten Wahlgang die relative Mehrheit ausreichen.

Im letzten Wahlgang gilt, nicht nur in Thüringen: Gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält

In den Bundesländern ist die Wahl des Ministerpräsidenten ganz unterschiedlich geregelt. Die Thüringer Mehrheits-Klausel findet sich beispielsweise in den Verfassungen von Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen wieder. Ganz am Ende einer verschlungenen Prozedur, im letzten Wahlgang, ist auch dort gewählt, "wer die meisten Stimmen erhält". Eine Nachfrage in der Staatskanzlei in Hannover hat ergeben, dass man dort, anders als Mohring, keinerlei definitorischen Zweifel hegt: Die relative Mehrheit sei erreicht, wenn ein Kandidat mehr Stimmen erhalte als jeder Mitbewerber.

Übrigens gibt es noch ganz andere durchaus demokratische Wege ins hohe Amt. Der bayerische Landtag wählt den Ministerpräsidenten mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen und schickt die Bewerber dann in die Stichwahl. Endet diese dann mit einem Patt, entscheidet - mit der Staatskanzlei als Hauptgewinn - das Los.

© SZ vom 22.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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