Terrormiliz Islamischer Staat:Öl, Lösegeld, Ablasshandel

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Eine Stadt unter Schock: Auf der Rue de Charonne können viele noch immer nicht begreifen, was passiert ist (links). Mit einer Schweigeminute gedenken die Menschen vor dem Eiffelturm der Opfer (rechts). (Foto: Jeff Mitchell/Getty, Philippe Wojazer/Reuters)

30 000 Ausländer sollen in den Reihen des IS kämpfen, seit 2014 herrscht die Terrormiliz über Gebiete in Syrien und im Irak. Daran haben auch die Angriffe aus der Luft nichts geändert.

Von Sonja Zekri, München

Der sogenannte Islamische Staat ist in Europa angekommen und operiert, wie es ihm gefällt. Er hat sich zu den Anschlägen in Paris bekannt und am Montag in einem wahrscheinlich authentischen Video mit neuen Angriffen auf Europa und Amerika gedroht: "Wir erneuern unseren Aufruf an die Muslime in Europa, im ungläubigen Westen und überall, die Kreuzfahrer in ihrer Heimat und wo immer sie sind zu attackieren", hieß es darin. Und: "Wir werden Rom erobern." Fragen und Antworten zum aktuellen Zustand der gefährlichsten Terrortruppe der Welt.

Die Terroristen haben viele Namen: Daesch, IS, Isis. Welcher ist der richtige?

Daesch ist das arabische Akronym für das deutsche Isis: Al-dawla al-Islamija fi-l-Iraq w l-Scham, also der Islamische Staat im Irak und Großsyrien oder der Levante. So nannte sich die Organisation von April 2013 bis Juni 2014. Danach nannte ihr Anführer Abu Bakr al-Baghdadi seine Gruppe "Islamischer Staat". Der Name war kürzer, die regionale Einschränkung war aufgehoben, der Herrschaftsanspruch aber auf die ganze Welt ausgeweitet. Besser ist es ohnehin, vom sogenannten Islamischen Staat zu sprechen. Schließlich erkennen dieses Gebilde nicht einmal Muslime als islamisch an.

Wie groß ist das Territorium des IS?

Seit 2014 kontrollieren die Dschihadis im Osten Syriens und im Nordosten des Irak eine Fläche von mehr als 100 000 Quadratkilometern und mehr als zwei Millionen Menschen. Der größte Teil des Geländes ist Wüste, allerdings liegen auch die lukrativen Ölfelder im syrischen Nordosten hier. Und daran hat sich nicht viel geändert, obwohl eine internationale Koalition unter Führung der Amerikaner seit einem Jahr Luftschläge fliegt: Weder haben die Terroristen ihr Gebiet substanziell ausdehnen können und beispielsweise Bagdad eingenommen, noch haben die Bombardements entscheidendes Gelände zurückgewonnen.

Wie viele Kämpfer hat der IS?

Schätzungen reichen von 20 000 bis 31 500 Mann (CIA) über 50 000 Kämpfer allein in Syrien (Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London) bis zu 70 000 Dschihadis verschiedener Nationalitäten (Russischer Generalstab) oder sogar noch mehr. Allein die Zahl der ausländischen Kämpfer soll gewaltig sein: Im September gingen amerikanische Justiz und Geheimdienste von 30 000 Ausländern in den Reihen des IS aus. Darunter waren einige der Attentäter von Paris, die sich in Syrien haben ausbilden lassen.

Der Belgier Abdelhamid Abaaoud gilt als möglicher Drahtzieher der Anschläge in Paris. Er soll über Jahre beim IS unter dem Namen Abu Omar aufgestiegen sein. Bietet der IS ausländischen Terroristen grundsätzlich gute Chancen?

Selten. Nach außen, also mit Blick auf erhoffte Rekruten im Westen, gibt sich der IS als wahre "Umma", als internationale Gemeinschaft der Gläubigen. Aber die operativen Entscheidungen trifft der innere Führungszirkel, und der besteht fast nur aus Irakern.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat auf dem G- 20-Gipfel in Antalya gesagt, man müsse die "Geldflüsse der Terroristen" unterbinden. Geht das?

Jedenfalls klingt es gut. Bislang ist die größte Einnahmequelle für die Dschihadis noch immer das Öl - und dies auch ein Jahr nach Beginn der Luftschläge. Die Financial Times hat recherchiert, dass die Koalition unter Führung der Amerikaner mehr als 10 600 Luftschläge geflogen hat, aber die Terroristen im Durchschnitt noch immer 1,5 Millionen Dollar pro Tag durch den Ölverkauf verdienen. Die Produktion im IS-Gebiet liegt bei 34 000 bis 40 000 Fässern pro Tag, die sie pro Fass für 20 bis 45 Dollar verkaufen. Diese Einkommensquelle trockenzulegen ist nicht so leicht: Selbst wenn der Abfluss des Öls in die Nachbarländer abgeschnitten würde, ist der lokale Markt riesig. Das gesamte Gebiet der Terrormiliz hängt daran, syrische Milizen, die den IS eigentlich bekämpfen, kaufen hier Öl. Und die Mitarbeiter der Raffinerien und Produktionsanlagen sind oft Zivilisten: "Wenn du einen Fahrer tötest, erhältst du eine ganze Familie neuer Dschihadis", klagte ein westlicher Diplomat in der FT. Bei der Nutzung der Gaswerke kooperieren Terroristen und das Assad-Regime ganz offen.

Und die übrigen Geldquellen?

Sind oft nur religiös verbrämte Kriminalität: Die Terroristen haben die staatlichen Banken im irakischen Mossul, Salah-Din und Anbara ausgeraubt. Sie verlangen islamisch etikettierte Abgaben von Unternehmern, Apothekern, Bauern oder Ladeninhabern, etwa in Mossul, auch von Studenten. Sie plündern, enteignen, konfiszieren in großem Stil. Von Nicht-Muslimen erpressen sie eine Sondersteuer, die im islamischen Mittelalter Jisjah genannt wurde. Mancherorts ist von einer halben Unze Gold die Rede, die Christen zahlen sollen, wenn sie nicht konvertieren. Aber diese Erpressung umfasst nicht alle Gruppen. Die Jesiden im Irak beispielsweise wurden vertrieben, ermordet, und die Frauen versklavt oder verkauft, was wiederum Geld brachte, aber wohl vor allem der Befriedigung der Kämpfer diente. Lösegeld in Millionenhöhe, auch für ausländische Journalisten, ist ein weiterer Einkommensfaktor. Außerdem erheben sie Zölle. Nicht alle finden dies schlecht: Besser einmal vom IS abkassiert werden als mehrmals von verschiedenen Milizen, wie es in den umstrittenen Gebieten ist. Auch der Schmuggel von Antiken aus den besetzten Gebieten liefert Einkünfte, allerdings ist die Höhe umstritten. Und: Archäologen werfen Syriens Präsident Assad übrigens ebenfalls Antiken-Verkauf vor.

Welche Staaten unterstützen die Terroristen?

Keine. Es gibt individuelle Sympathisanten am Golf oder in Europa, aber keine staatlichen Finanziers.

Frankreich bombardiert nach den Anschlägen von Paris die syrische Stadt Raqqa. Was bringt das?

Raqqa ist die IS-Zentrale in Syrien. Ursprünglich lebten hier eine Million Menschen, heute etwa 400 000. Kaum jemand verlässt das Haus: Frauen befürchten, sie könnten mit Kämpfern zwangsverheiratet werden, junge Männer befürchten, sie werden als Kämpfer verschleppt. Kinder bleiben meist zu Hause: In der Schule werden sie gehirngewaschen. Die Kontrolle der Stadt kostet. Inzwischen ist der IS zum Ablasshandel übergegangen: Wer beim Rauchen oder in unangemessener Kleidung gesehen wird, soll sich inzwischen freikaufen können.

Die USA und ihre Verbündeten haben am Sonntag 23 Luftangriffe auf IS-Ziele geflogen. Aber sind die Amerikaner nicht mit schuld an der Entstehung des "Islamischen Staates"?

Der IS ist aus den Trümmern der irakischen Diktatur entstanden. Im Bürgerkrieg nach dem US-Einmarsch und dem Sturz Saddam Husseins formierte sich erst al-Qaida im Irak, aus dem 2006 der "Islamische Staat im Irak" hervorging. Nach Beginn des Aufstandes in Syrien 2011 fasste dieser in Syrien unter dem Namen "Nusra-Front" Fuß, machte sich aber bald selbständig. Heute sieht man es als Fehler an, dass die Amerikaner die sunnitische Funktionselite Saddams entmachtet hat und der Aufstieg der schiitischen Autokratie unter dem damaligen Premier Nuri al-Maliki nicht verhindert wurde. Viele entlassene sunnitische Baath-Mitglieder liefen - obwohl säkular - zu den Dschihadisten über.

© SZ vom 17.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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