Terre des Hommes:"Wie Tiere behandelt"

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Lutz Beisel hat vor 50 Jahren die deutsche Sektion des Vereins gegründet und spricht über die Aufgaben der Hilfsorganisation.

Interview von Ulrike Heidenreich

Mit Rettungsflügen aus Vietnam fing alles an: Kriegsverletzte Kinder wurden nach Deutschland geholt und medizinisch behandelt. Viele Kriegswaisen fanden hier auch eine neue Familie, ein vietnamesisches Mädchen etwa bei Lutz Beisel. Im Januar 1967, vor 50 Jahren, gründete der Schriftsetzer die deutsche Sektion des Vereins Terre des Hommes (TdH) - Hilfe für Kinder in Not. Seitdem ist der Verein auf 1300 ehrenamtliche und 140 hauptamtliche Mitarbeiter im In- und Ausland angewachsen.

SZ: Irgendwann konnten Sie nicht mehr zuschauen, als in deutsche Wohnzimmer die Bilder vom Vietnamkrieg kamen. Geht Ihnen das jetzt oft auch so?

Lutz Beisel: Damals war ich tief erschüttert, bin schwer mit dem Leid fertig geworden. Heute habe ich immer noch Schwierigkeiten. Wenn ich Gräuelnachrichten sehe oder die Bilder aus Aleppo. Ich muss immer darum kämpfen, mein seelisches Gleichgewicht zu wahren. Das ist eine Sensibilität, mit der ich sowohl gesegnet als auch geplagt bin.

Haben Sie den Eindruck, heute wäre noch mehr zu tun und zu helfen als vor 50 Jahren?

Es gibt ja einige Erfolge zu verzeichnen. So ist der Hunger weltweit zurückgegangen - aber gleichzeitig wächst auch die Not nach. Es gibt Kriege und Konflikte, die die Fortschritte wieder aufwiegen. Dazu gehören Syrien, aber auch viele andere Länder, in denen Not gelitten wird. Etwa Myanmar, so absurd sich das jetzt anhört. Da werden Minderheiten wie die muslimischen Rohingya wie Tiere behandelt.

Als Sie Terre des Hommes Deutschland gründeten, geschah das mit einem eingeschworenen Kreis, es waren beispielsweise viele Waldorflehrer darunter. Wer sind die Menschen, die heute die Initiative ergreifen und helfen?

Sie kamen damals aus allen Schichten, es waren Pazifisten, Linke und es waren die frühen Umweltschützer. Alle, die das Gefühl hatten, man kann die Welt nicht so lassen wie sie ist. Heute kommen sie auch wieder aus allen gesellschaftlichen Ebenen, es ist aber noch weiter gefächert.

Sind es mehr geworden?

Ja. Heute engagieren sich viel mehr Menschen als früher. Aber wir haben eine ziemlich starke Zersplitterung. Es gibt unheimlich viele Initiativen in vielen Ländern, die Privatleute aufgezogen haben. Die Hilfsbereitschaft hat sich demokratisiert oder vervielfältigt, wie immer man das nennen mag. Das kann man durchaus positiv sehen.

Haben sich Toleranz und Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft also verstärkt?

Natürlich gibt es immer noch die, die die Augen zumachen oder nach rechts wegdriften, aber wir rennen inzwischen mehr offene Türen ein. Woran das liegt? Das ist schwer zu sagen. Es liegt aber sicher an unserer Kultur. Dass wir die Ideale aus der Aufklärung und dem Humanismus in die Gegenwart tragen konnten. Da gibt es immer einen Fundus von Menschen, die aus dieser Ecke kommen. Aber auch viele Kinder fragen sich plötzlich: Was ist das für eine Welt? Ich will mich auf die Seite derjenigen stellen, die das Gute wollen. Das war vor 50 Jahren noch eher selten in der Bevölkerung anzutreffen.

Das liegt wohl auch daran, dass die Menschen sich unmittelbarer und aktueller informieren können.

Ja, unsere Medienlandschaft spielt da eine große Rolle. Es ist die Vielfalt, die Direktheit, die Engagement fördert. Die Leute, die die Nachrichten anhören und sich Gedanken dazu machen, finden außerdem leichter Kontakt zu Menschen, die so fühlen und denken wie sie. Daraus entsteht dann oft echte Hilfe für Notleidende. Bei mir war es ja auch so, dass ich zunächst nicht wusste, wo und wie ich anfangen sollte, den kriegsverletzten Kindern aus Vietnam zu helfen. Nur durch Zufall habe ich von Edmond Kaiser, dem Schweizer Gründer von Terre des Hommes, gelesen und bin dann zu ihm gefahren.

Terre des Hommes mischt vielfältig mit: Beklagt im Vorfeld der Spiele von Rio Menschenrechtsverletzungen in Brasilien, organisiert europaweit Menschenketten gegen Rassismus, protestiert gegen Kinderarbeit. Sind die Aufgaben mehr geworden?

Ich kann weiter aufzählen den Kampf gegen Kindersoldaten, gegen Arbeitssklaven, gegen sexuellen Missbrauch, gegen Diskriminierung, Verletzung und Tötung von Mädchen, gegen das Gefühl der Heimatlosigkeit und Zukunftslosigkeit - Terre des Hommes sagt zu all diesen Themen etwas. Wir sind als Hilfsorganisation gewachsen und unsere Kontakte sind es auch. Darum können wir überall auf der Welt aktiv werden. Die Aufgaben waren schon immer da, nur unsere geografischen Schwerpunkte anders. Und die Arbeit hat nicht abgenommen, die Not ist gleich groß gelieben.

Im "Kompass 2030", den TdH mit der Welthungerhilfe veröffentlicht hat, gehen Sie hart mit der deutschen Entwicklungshilfe ins Gericht. Was läuft da schief?

Die Entwicklungshilfe ist vo n den Regierungen immer stiefmütterlich behandelt worden. Das lag an den einzelnen Ministern, aber vor allem auch daran, dass Entwicklungshilfe im Kabinett der Bundesregierungen einfach keine politisch gewichtige Rolle spielt. Das muss sich ändern. Entscheidungen in der Landwirtschafts-, Außenhandels-, Umwelt- und Finanzpolitik müssen vorab im Kabinett auf ihre Entwicklungsverträglichkeit überprüft werden. So kann viel Schaden abgewendet und verhindert werden, dass Agrarexporte nach Afrika die mit Mitteln der Entwicklungspolitik geförderte örtliche Wirtschaft gleich wieder ruinieren.

Und dann?

Es sollen Partnerschaften entstehen zwischen westlichen und afrikanischen Ländern. Da könnten neue Ideen entstehen, da fühlen sich die Menschen auf beiden Seiten wirklich verantwortlich. Es geht um Sachkunde und Nachhaltigkeit. Es wird immer wichtiger, bewusster zu produzieren und zu konsumieren. Um eine menschengemäße Weltwirtschaft voranzutreiben, welche die Lebensgrundlagen bewahrt.

© SZ vom 03.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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