Tempelberg:Himmel und Hölle

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Der heilige Berg könnte Juden und Palästinenser in ihren Traumata und ihren Ängsten verbinden. Stattdessen trennt er sie bis heute. Schon kleinste Provokationen können gewaltige Unruhen auslösen. Denn der Berg enthält die Treiber des Nahost-Konflikts in konzentrierter Form.

Von Moritz Baumstieger

Juden kamen und brachten Stühle und Bank mit. Stellten sie direkt am Fuße des Tempelbergs auf, ohne Rücksprache mit den Muslimen. Kurz darauf montierten sie auch noch eine hölzerne Trennwand, um an der Klagemauer betende Männer und Frauen zu trennen. Palästinensische Führer wie der Großmufti von Jerusalem riefen das Volk zum Widerstand auf - das edle Heiligtum, das Vaterland, ja gar der Glaube an sich seien in Gefahr, wenn jetzt keine Reaktion komme. Was da gerade passiere, möge nach kleinen und vernachlässigbaren Veränderungen aussehen. In Wahrheit versuche das Volk Israel aber, sich rechtswidrig die Kontrolle über den Felsendom und die Al-Aksa-Moschee anzueignen.

Die arabischen Einwohner Jerusalems hörten den Ruf: Fast ein Jahr lang kam es zu Demonstrationen, Krawallen und Straßenschlachten, bis die Situation im Sommer darauf vollends eskalierte. Es kam zu Pogromen und Übergriffen, am Ende waren 133 Juden tot und 116 Palästinenser.

Dies alles geschah in den Jahren 1928 und 1929. In den fast 90 Jahren, die seither vergangen sind, hat sich in Jerusalem alles geändert: Der Kolonialismus brach zusammen, Kriege und Intifadas wurden ausgefochten. Mal herrschten britische Offiziere, mal jordanische Beamte, schließlich die Israelis, die durch Annexion des Ostteils die zeitweise geteilte Stadt vereinten und zu ihrer Kapitale erklärten.

Gleichzeitig hat sich in dieser ewigsten aller Städte gar nichts geändert. Scheinbar nebensächliche Vorgänge können an diesem Ort, den drei Religionen als eine Art Verbindungstür in Richtung Himmel sehen, die Hölle ausbrechen lassen - vor allem, wenn sie ihren heiligsten Kern betreffen, den Tempelberg. Das war 1928 so, das ist heute in diesen Tagen wieder so.

Glaubt man an einen Gott, der in seiner Schöpfung den Weltenlauf bis zum Jüngsten Tag angelegt hat, dann glaubt man an einen Gott mit Hang zu exzentrischen Spielereien: Dem Bauprinzip russischer Puppen gleich setzte er in die Mitte des kompliziertesten Konflikts der Gegenwart eine Stadt, in der sich alle einzelnen Streitpunkte bündeln. Und im Herzen dieser Stadt wiederum platzierte er eine Miniatur - einen keine 20 Meter hohen und gerade 14 Hektar großen Hügel - der die grundlegenden Treiber des Nahost-Konflikts in höchstmöglich konzentrierter Form enthält: das Trauma erfolgter Vertreibung und die Angst vor einer neuen.

Juden weltweit begehen am Montagabend den Trauertag Tischa beAw, an dem sie der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 90 nach Christus gedenken. Die meisten Gläubigen, die dann Klagelieder anstimmen, werden dabei an die Kotel denken. So heißt die Westmauer des Tempels, die als Einzige stehen blieb und als Klagemauer heute spirituelles Zentrum des Judentums ist. Wenige Radikale werden in Gedanken einen Stock weiter oben verweilen, bei der Al-Aksa-Moschee und der goldenen Kuppel des Felsendoms. Um das Trauma der Vertreibung zu heilen, wollen sie hier einen neuen, dritten jüdischen Tempel errichten, anstelle oder zwischen den islamischen Heiligtümern.

Dass die Palästinenser vor dieser auch nach Ansicht der meisten Israelis absurden Idee existenzielle Ängste und aggressive Reflexe entwickeln, liegt in ihrem Trauma der Vertreibung begründet.

Naiven Mutes könnte man nun hoffen, dass beide Seiten irgendwann erkennen, dass dieser heilige Berg sie in ihren Traumata und Ängsten doch eher verbindet, als dass er sie trennt. Man muss jedoch kein Prophet sein, um zu ahnen, dass bis dahin leicht noch einmal neunzig Jahre vergehen können.

© SZ vom 29.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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