Tag zur Überwindung der Armut:"Ich hoffe, dass die Deutschen mehr tun werden"

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UN-Untergeneralsekretärin Thoraya Obaid über den Unterschied von Armut in Deutschland und in der Dritten Welt, den Umgang mit Sexualität in islamischen Staaten und die Übertragbarkeit des Nobelpreis-gekürten Mikrokredit-Modells auf die Bundesrepublik.

Oliver Das Gupta

sueddeutsche.de: Zurzeit sorgt eine Studie hierzulande für Aufregung, wonach acht Prozent der Deutschen als gesellschaftlich abgestiegen und damit im weiteren Sinne als arm gelten. Für wie wichtig halten Sie das Thema Armut in Industriestaaten?

Thoraya Obaid ist seit 2001 Exekutivdirektorin des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA), im Rang einer Untergeneralsekretärin. Sie ist verheiratet und Mutter zweier Töchter. Obaid war 1963 die erste Frau aus Saudi-Arabien, die mit einem staatlichen Stipendium in den USA studierte.1992 wurde der 17. Oktober von der Generalversammlung der Vereinten Nationen zum "Internationalen Tag zur Überwindung der Armut" erklärt. (Foto: Foto: AP)

Thoraya Obaid: Armut ist ein relativer Begriff. Armut in Deutschland ist nicht mit Armut in Afrika zu vergleichen.

Wir definieren sie nicht nur durch ökonomische Bedürftigkeit, sondern betrachten Menschen auch als arm, wenn der Zugang zu Bildung, Gesundheitseinrichtungen, zu Arbeit nicht möglich ist. Denn es handelt sich um wesentliche Menschenrechte.

sueddeutsche.de: Wo auf der Welt finden sich die Brennpunkte von Armut?

Obaid: In vielen Staaten Afrikas und in einigen Südostasiens. Dort findet sich die klassische, die größte Armut, was bedeutet: Menschen leben von weniger als einem Dollar pro Tag.

Daneben gibt es schwache Länder, in denen die Menschen sozial benachteiligt sind.

sueddeutsche.de: Können Sie ein Beispiel nennen für solch einen "schwachen Staat"?

Obaid: Nehmen Sie ein instabiles Land wie die vom Krieg zerrüttete Demokratische Republik Kongo. Dort muss man nicht nur auf einen Frieden hin arbeiten, sondern genauso auf einen allgemeinen Aufbau. Die Menschen hören auf zu kämpfen, wenn sie Fortschritt sehen. Denn das ist ein Zeichen der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Ein anderes Beispiel ist Kenia: Das Land ist eigentlich nicht "schwach", aber wenn Sie einmal durch die Slums von Nairobi gehen, dann sehen Sie, was Armut bedeutet: Ein kleiner Raum, in dem eine ganze Familie lebt, das Dach ist offen. Das ist sehr traurig.

Dann gibt es noch einen weiteren Typus: Das sind die Länder, in denen Armut an Aids gekoppelt ist.

sueddeutsche.de: Können Sie diesen Zusammenhang genauer erklären?

Obaid: Die Verbindung ist offensichtlich: Wenn es aus Armutsgründen keine Gesundheitsversorgung gibt und niemand erklärt, was Safer Sex ist und wie man Kondome benutzt, breitet sich die Krankheit aus. Wer an Aids erkrankt, verliert auch die theoretische Möglichkeit, zu arbeiten - was zu noch mehr Armut führt.

sueddeutsche.de: Was sind die Hauptauslöser für Armut?

Obaid: Armut gründet sich fast immer auf mehreren Ursachen. Es ist nicht nur Krieg, nicht nur Aids, nicht nur fehlendes Wirtschaftswachstum. Wir vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen sehen einen weiteren großen Faktor: Dass Menschen in Not keine Möglichkeit haben, Verhütungsmittel zu erhalten. Das bedeutet in der Folge: Diese Menschen haben mehr Kinder, als sie ernähren können, so dass es zu einer generationenübergreifenden Armut kommt.

sueddeutsche.de: Frau Obaid, Sie stammen aus Saudi-Arabien und haben dadurch einen besonderen Einblick in den muslimischen Kulturkreis. Ist es für die UN in islamischen Ländern schwierig, Dinge wie zum Beispiel den Gebrauch von Kondomen zu vermitteln?

Obaid: Nein, nicht wirklich. Sehen Sie: Das ganze Thema Sexualität hängt in muslimischen Gesellschaften von der Frage ab, was vom kulturellen Standpunkt her akzeptiert wird. Und der lautet: Sexuelle Beziehungen sollten zwischen verheirateten Menschen ablaufen. Innerhalb dieses Kontextes gibt es keine Tabus hinsichtlich Familienplanung, Aids-Prävention und dem Gebrauch von Kondomen.

In islamischen Staaten ist es schwierig, dass junge Menschen heutzutage sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe haben - eine Folge der Globalisierung, die einen Werte- und Verhaltenswandel mit sich bringt.

sueddeutsche.de: Wie können diese Jugendlichen aufgeklärt werden?

Straßenkind im indischen Kalkutta (Foto: Foto: AFP)

Obaid: In dem sie versuchen, sich gegenseitig helfen und zu erziehen, peer-to-peer. Dies ist in allen Kulturkreisen notwendig, nicht nur im muslimischen. Wir benötigen einen Dialog zwischen den Generationen: Die Älteren sollten verstehen, was die Kinder empfinden, und die jungen Leute sollten nachvollziehen, was ihre Eltern denken. So kann man sich gegenseitig helfen. Der Bedarf an diesem Dialog der Generationen ist da.

sueddeutsche.de: Ebenso ist ein Dialog der reichen und der armen Länder von Nöten. Wie müssen die Industrieländer die Armutsbekämpfung verbessern?

Obaid: Die Industrieländer tun schon eine Menge, sie sind die größten Geber. Natürlich sollte die Hilfe gesteigert werden. Bislang stellen nur einige wenige Staaten wie vereinbart 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukt zu Verfügung.

sueddeutsche.de: Sind Sie zufrieden mit der deutschen Entwicklungshilfepolitik?

Obaid: Die deutsche Entwicklungspolitik ist führend in vielen Bereichen. Aber: Es könnte mehr getan werden. Der deutsche Beitrag liegt noch immer unter 0,7 Prozent, zur Zeit bei etwa 0,35 Prozent. Ich hoffe, dass die Deutschen mehr tun werden, um bis spätestens 2015 die EU-Zielvorgabe von 0,7 zu erreichen.

sueddeutsche.de: Welche Rolle spielen Konzerne bei der Armutsbekämpfung?

Obaid: Sie sind wichtig. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen den USA und Europa: In den Vereinigten Staaten unterhalten alle großen Firmen Stiftungen wie beispielsweise die von Bill Gates und Rockefeller. Diese Stiftungen unterstützen Projekte in aller Welt. Ich denke, diese Art von Hilfe ist in Europa noch nicht weit verbreitet.

sueddeutsche.de: Gibt es positives Beispiel eines deutschen Unternehmens?

Obaid: Der DaimlerChrysler-Konzern bietet zum Beispiel seinen südafrikanischen Mitarbeitern ein Aids-Aufklärungsprogramm an. Das nennen wir bei den UN soziale Verantwortung im privaten Sektor.

sueddeutsche.de: Eine andere Variante der privatwirtschaftlich organisierten Entwicklungshilfe wurde jüngst prominent belohnt. Kann das Mikrokredit-Modell des Friedensnobelpreisträgers Mohammed Yunus auch auf andere Länder übertragen werden?

Obaid: Aber ja. Tatsächlich gibt es bereits in vielen Entwicklungsländern Projekte, die auf dem Konzept der Mikrokredite basieren. Ich glaube, die Welt hat eine Menge gelernt von seiner Idee. Es kann überall angewandt werden - auch in Deutschland. Das einfache Prinzip lautet: Ich gebe den Armen Kapital, damit sie aus der Armut ausbrechen können. Und ich zeige ihnen, wie sie mit dem Geld umgehen können.

sueddeutsche.de: Was kann ich als Bürger eines Industrielandes tun, um die Armut der Ärmsten zu bekämpfen?

Obaid: Als Journalist: Darüber berichten, und zwar nicht nur über die Misere, sondern auch über Hoffnung.

Und als einfacher Bürger: Die Internetseite des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen besuchen und online spenden.

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