Stuttgart:Feinstaub aus dem Kessel

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Filtersäulen, nächtliche Nassreinigung und Fahrverbote: Wie Baden-Württembergs Hauptstadt Stuttgart es schafft, die Luft über Deutschlands dreckigster Straßenkreuzung zu säubern.

Von Claudia Henzler, Stuttgart

An diesem Dienstag beginnt zum vierten Mal die Jahreszeit, in der das Stuttgarter Rathaus bei ungünstiger Wetterlage zu einer außergewöhnlichen Maßnahme greifen und Feinstaubalarm ausrufen wird. Autofahrer werden dann gebeten, auf die Bahn umzusteigen, außerdem muss der heimische Schwedenofen an diesen Tagen zwingend aus bleiben. Stadt und Land haben zwar vieles unternommen, damit die Luftqualität im Stuttgarter Talkessel steigt, aber noch ist man nicht am Ziel.

Und deshalb müssen sich die Stuttgarter auf weitere Zumutungen einstellen. Im Januar soll im gesamten Innenstadtgebiet ein neues Tempolimit eingeführt werden: Autos dürfen dann auch auf den Hauptverkehrsstraßen nicht mehr schneller als 40 fahren, außerdem werden vier Abschnitte der beiden wichtigsten Durchgangsstraßen für Diesel der Euro-5-Norm gesperrt. Älteren Diesel-Modellen ist die Fahrt in den gesamten Talkessel schon seit Anfang 2019 verwehrt.

Mit dem Tempolimit und den streckenbezogenen Fahrverboten wollen Stadt und Land endlich auch die Stickoxidwerte in den Griff bekommen, nachdem die EU-Vorgaben für Feinstaub 2018 erstmals eingehalten wurden und es so aussieht, als könnte dies 2019 wieder gelingen. Stadt und Landesregierung spielen mit den neuen Einschränkungen auch auf Zeit, um das flächendeckende Fahrverbot für Euro-5-Diesel zu vermeiden, zu dem sie nach einer Klage der Deutschen Umwelthilfe eigentlich verpflichtet wären. Verkehrsministerium und Rathaus hoffen, dass die Schadstoffwerte in den kommenden Monaten so weit sinken, dass eine Verschärfung der Dieselverbotszone nicht nötig sein wird. Ende April 2020 wird Bilanz gezogen.

Dass Stuttgarts Luft sauberer wird, liegt zum einen an der Entwicklung schadstoffärmerer Motoren, hat aber auch mit erheblichen Anstrengungen von Stadt- und Landespolitik zu tun. Vor allem die Stadt hat wenig unversucht gelassen, um die Schadstoffbelastung zu senken. Dabei durften auch mal mehrere Hunderttausend Euro versenkt werden. So haben Stadt und Land 2017 testen lassen, ob eine Mooswand die Feinstaubbelastung spürbar senken könnte. Mangels nachweisbarem Ergebnis wurde sie nach zwei Jahren wieder abgebaut. Kosten samt Studie: knapp 560 000 Euro.

Stauzone Stuttgarter Innenstadt: Immer wieder gibt es dort Feinstaubalarm. Dann ruft die Stadt Autofahrer zum freiwilligen Umstieg auf Busse oder Bahnen auf. (Foto: Sina Schuldt/dpa)

Im Maßnahmenkatalog finden sich etliche Investitionen, die von Anfang an als Übergangslösungen gedacht waren und nur dazu dienen, die Grenzwerte an Deutschlands bekanntester und lange Zeit dreckigster Kreuzung "Am Neckartor" zu senken, bis die Ursachen für die schlechte Luftqualität behoben sind - bis also weniger Leute Auto fahren oder zumindest der Anteil emissionsarmer Autos steigt.

Recht zufriedenstellend war aus Sicht von Stadt und Land der Effekt von 17 elektrisch betriebenen Filtersäulen, die sie am Rand der berüchtigten Kreuzung haben aufstellen lassen und die in einer ersten Projektphase die Feinstaubbelastung um zehn Prozent gesenkt haben sollen. Im Juli wurde deshalb Phase zwei eingeläutet: Seitdem sind 23 neue Säulen im Einsatz, die angeblich neben Feinstaub auch noch Stickstoffdioxid aus der Luft filtern können.

Parallel dazu hat das Land in diesem Sommer auf einem 300 Meter langen Straßenabschnitt einen neuen Belag aufbringen lassen, der Titandioxid enthält. Ein Material, das laut der Herstellerfirma Strabag unter Sonnenlichteinfluss Stickoxide abbaut und in Nitrate umwandelt. Strabag verspricht eine Verringerung der Stickstoffdioxid-Konzentration in der Luft "um bis zu 26 Prozent". Nach diesem Prinzip der Fotokatalyse sollen auch die Fassadenfarben wirken, mit denen ebenfalls in diesem Sommer die Gebäude von Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt angestrichen wurden.

Schon seit 2017 lässt das Rathaus die Straße und Gehwege rund um die Messstelle "Am Neckartor" nachts nass reinigen, was den städtischen Haushalt jährlich mit 400 000 Euro belastet. Ergänzt werden diese Sofortmaßnahmen durch Projekte, die auf langfristige Effekte hoffen lassen. Die Autostadt Stuttgart investiert in den öffentlichen Nahverkehr und stellt ihren eigenen Fuhrpark um. Noch steht sie bei der Mobilitätswende ziemlich am Anfang, doch erste Erfolge sind zu sehen. So hat die zweijährliche Verkehrszählung ergeben, dass ein paar Tausend Autos weniger in den Talkessel fahren als noch vor einigen Jahren, obwohl Stuttgart kontinuierlich Einwohner gewinnt. Etwa 210 000 Fahrzeuge sind es täglich in jeder Richtung.

Ob das Fahrverbot für Euro-4-Diesel einen Effekt hat, ist offen. Erstens gibt es Ausnahmeregelungen für ganze Berufsgruppen wie Taxifahrer, Handwerker und Lieferanten. Zweitens hat sich die Bundesregierung geweigert, eine blaue Plakette einzuführen, um die Schadstoffklasse von Diesel-Fahrzeugen sichtbar zu kennzeichnen. Die Stadt kann also gar nicht kontrollieren, was bei den Autos unter der Motorhaube steckt. Die Verwaltung arbeitet aushilfsweise mit Stichproben und überprüft die Schadstoffklasse all jener Fahrzeuge, die ohnehin in der Bußgeldstelle aufschlagen, weil ihre Besitzer falsch geparkt haben oder geblitzt wurden.

Zum Umstieg auf Bus und Bahn dürften auf jeden Fall die Parkgebühren motivieren: Ein Tagesticket kostet in Stuttgart 8,60 Euro, in München ist es noch für sechs Euro zu haben (jeweils außerhalb der Altstadt). Was den öffentlichen Nahverkehr angeht, gilt die Reform vom April 2019 schon jetzt als Erfolg, bei der die Tarife stark vereinfacht wurden und auch die Preise sanken. Laut dem Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart sind im ersten Halbjahr 2019 so viele Menschen mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren wie noch nie. Die Zahl der bezahlten Fahrten stieg um vier Millionen auf 192 Millionen, wobei der große Schub nach der Tarifreform verzeichnet wurde.

Eine weitere Maßnahme, um die Feinstaubwerte dauerhaft niedrig zu halten: Stuttgarts Hausbesitzer können von der Stadt Fördergeld bekommen, wenn sie ihre Ölheizung abschaffen. Wie viel das Instrument Feinstaubalarm selbst zur Reduktion von Schadstoffen beiträgt, ist schwer zu sagen, weil die Stadt nicht erfasst, wie viele Menschen ihr Auto an Alarmtagen tatsächlich stehen lassen. Bei einer Umfrage sagten 57 Prozent der Bürger, die regelmäßig mit dem Auto zur Arbeit fahren oder Besorgungen machen, dass sie ihr Verhalten bei Alarm ändern.

Im vergangenen Winterhalbjahr hat die Stadt zwischen Mitte Oktober und Mitte April neunmal den Alarm ausgerufen, der insgesamt 64 Tage lang galt. Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) wird es in diesem Jahr wieder tun, sobald der Deutsche Wetterdienst für mindestens zwei aufeinanderfolgende Tage ein stark eingeschränktes Austauschvermögen der Atmosphäre prognostiziert. Danach würde Kuhn die bundesweit einzigartige Maßnahme gerne wieder abschaffen: "Bleiben wir wieder unter den Grenzwerten, stellen wir den Alarm ab Oktober 2020 ein", hat er angekündigt.

© SZ vom 15.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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