Stuttgart:Die Wunden vom 30. September

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Entschuldigung erst nach fünf Jahren - dafür aber von höchster Stelle. Ministerpräsident Kretschmann lädt die Opfer eines überharten Polizeieinsatzes in die Staatskanzlei.

Von Max Hägler, Stuttgart

Auch Dieter Wagner war der Einladung gefolgt: Dieser ältere Herr, dessen Bilder um die Welt gingen, am 30. September 2010. Die Polizei räumte damals den Schlossgarten in Stuttgart, um den Bau des Tiefbahnhofes Stuttgart 21 voranzubringen. Es ging überhart zu, der Strahl eines Polizei-Wasserwerfers hat Wagner so arg getroffen, dass er beinahe ganz erblindet ist seitdem. Fünf Jahre danach hatte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) Wagner und ein Halbdutzend weiterer Opfer des Einsatzes ins Staatsministerium gebeten - und sie im Namen der Regierung um Verzeihung gebeten. "Wir können die körperlichen Wunden nicht heilen. Wir können uns nur für das Geschehen aufrichtig entschuldigen", sagte Kretschmann, nachdem er sich eine Stunde mit den damaligen Demonstranten ausgetauscht hatte. Der sogenannte Schwarze Donnerstag habe sich tief in die kollektive Erinnerung der Bürger eingebrannt, sagte Kretschmann, der damals selbst im Schlossgarten war, als Grünen-Fraktionschef.

Seit Kretschmann bald darauf Regierungschef geworden ist, halten ihm Kritiker immer wieder vor, Teil des "Establishments" geworden zu sein und die Kritik am Bahnhofsbau aus den Augen verloren zu haben. Ein unangenehmer Vorwurf, den Kretschmann nun zu einem passenden Zeitpunkt zumindest teilweise ausräumt: Am 13. März ist Landtagswahl; Stimmen aus dem Lager der Bahnhofsgegner könnten helfen, an der Macht zu bleiben. Doch der Vorwurf einer Inszenierung läuft weitgehend ins Leere. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hatte erst in diesem November entschieden - angerufen von Opfern -, dass der Polizeieinsatz gegen das Grundgesetz verstoßen habe. Dies wollte die Regierung abwarten, um sich nicht in den Gang der Justiz einzumischen. Der fast erblindete Wagner versicherte jedenfalls hernach, er fühle sich nicht zu Wahlkampfzwecken missbraucht. Er sagte, was für alle Geladenen gilt: "Ich habe die Entschuldigung voll angenommen." Sie sei ehrlich gewesen.

© SZ vom 19.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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