SPD:Keine Wahl mehr

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Die Sitzung ihrer Bundestagsfraktion wird zur Abschiedsvorstellung von Andrea Nahles. Zurück bleiben Abgeordnete, die nach dem Rücktritt ihrer Chefin nicht zur Tagesordnung übergehen können.

Von Mike Szymanski, Berlin

Der Abgeordnete Sigmar Gabriel ist an diesem Dienstag auch noch mal zur Fraktionssitzung der SPD gekommen. Oft hatte der Ex-Chef der SPD anderes zu tun, wenn seine Fraktionskollegen zusammensaßen. Aber diese Sitzung, die will er offenbar nicht verpassen. Und Martin Schulz, der andere Ex-Chef, der ist auch gekommen. Am Rande der Sondersitzung vor einer Woche, als es um Nahles' Zukunft ging, da hatte er kurzzeitig die Fassung verloren und ist ausfällig geworden gegen Johannes Kahrs. Kahrs stand zu Nahles, Schulz hat gegen sie gearbeitet. Und Gabriel und Nahles? Die haben sich früher das Leben schwer gemacht. Sie sind zu Feinden geworden. Und nun, an diesem Dienstag, da gibt Andrea Nahles auf.

Am Montag hat sie den Parteivorsitz abgegeben. Gleich wird sie auch nicht mehr Fraktionsvorsitzende sein. Jetzt haben alle drei alles verloren. Nur Nahles verabschiedet sich komplett aus der Politik. Ein paar Minuten noch müssen sie sich gegenseitig ertragen.

Nahles sitzt schon in der Fraktion, als Gabriel um 14.05 Uhr um die Ecke biegt. Sie ist durch den Nebeneingang gekommen. Dieses Mal ist es den Kameraleuten nicht erlaubt, Bilder vom Auftakt der Sitzung zu machen. Nahles will keine Bilder mehr von sich in einem Amt, das sie nicht mehr bekleidet. Der Abschied fällt ihr schwer. Sie erzählt noch einmal, dass der Rückhalt für sie geschwunden sei. Eine Mehrheit für sich zu bekommen sei das eine, Rückhalt etwas anderes. Daran habe es gefehlt. Hätte sie ihren Plan durchgezogen, sich bereits an diesem Dienstag und nicht erst im September als Fraktionschefin zur Wiederwahl zu stellen, dann hätte sie auch ihr Schicksal als Parteichefin und das der großen Koalition in die Hände der 151 Fraktionskollegen gelegt. Jetzt gibt es keine Wahl. Es gibt auch keine Fraktionsvorsitzende Nahles mehr. Sie selbst hat den großen Knall herbeigeführt.

Andrea Nahles (re.), kommt zusammen mit Manuela Schwesig zur Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Die Sitzung dauert keine 15 Minuten, dann ist Nahles Vergangenheit. Aber die Probleme, die bleiben der SPD noch. Es ist nicht mal eine Woche her, dass sie sich hier in der Fraktion gegenseitig fast zerfleischt haben. Was musste Nahles sich nicht alles von Fraktionskollegen anhören: Sie verschrecke die Wähler, hatte der bayerische Abgeordnete Florian Post Journalisten erklärt. Der Spuk müsse ein Ende haben. In der Sitzung forderte er dann ihren Rücktritt. Andere erzählten, sie schämten sich für ihre Auftritte. Der Spiegel rekonstruierte später den Sitzungsverlauf. Da konnte jeder nachlesen, wie hässlich Sozialdemokraten nach einer Wahlniederlage miteinander umgehen. Die größten Verletzungen wurden Nahles in der Fraktion zugefügt. Ihr Abschied dort wird als kühler beschrieben als der im Parteivorstand am Montag. Die Fraktion ist noch lange nicht so weit, zur Tagesordnung überzugehen. Daniela Kolbe, Abgeordnete aus Leipzig, sagt: "Ich hoffe, dass ein paar Leute nachdenklich werden, was für einen Stil sie hier fahren wollen." Karl-Heinz Brunner, Abgeordneter aus Bayern, erwartet, dass jetzt wieder Prinzipien gelten: "Loyalität, Solidarität, Pflichtbewusstsein."

Es ist Nahles' Stellvertreter Rolf Mützenich, 59, der als dienstältester Vize die Fraktion nun führen wird. Mützenich genießt hohes Ansehen, er gilt als zurückhaltend und ausgleichend. Seit 2002 gehört er dem Bundestag an. Er beginnt seine Arbeit mit einer Geste. Er begleitet Andrea Nahles zum Ausgang, damit sie diesen Weg nicht alleine gehen muss. Das macht Eindruck in der Fraktion.

Er sagt nach seiner ersten Sitzung, die SPD werde "ernsthaft und konzentriert" weiter den Koalitionsvertrag abarbeiten.

Maxi Köhler, 20, Annaberg-Buchholz

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(Foto: oh)

Viele Menschen mögen sich gerade von der SPD abwenden. Ich habe mich entschieden, jetzt in die Partei einzutreten. Ich komme aus dem Erzgebirge, die anstehende Landtagswahl bei uns in Sachsen beschäftigt mich sehr. Ich habe das Gefühl, dass ein großer Graben entstanden ist: Auf der einen Seite stehen die Menschen, die für die AfD stimmen, auf der anderen Seite diejenigen, die die Grünen wählen. Ich glaube daran, dass die SPD diesen Graben schließen kann. Die enormen Gegensätze zwischen Stadt und Land, der Strukturwandel, niedrige Löhne - all das sind Dinge, die in meiner Heimat viele Menschen umtreibt. Wenn die SPD dagegen auf eine Politik der sozialen Gerechtigkeit setzt, die gleichzeitig stärker als früher den Klimaschutz betont, dann kann sie viele Menschen mitnehmen. Dafür will ich kämpfen.

Dirk Smaczny, 50, Duisburg

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(Foto: oh)

Wir vom Ortsverein Rheinhausen-Mitte waren mehrheitlich gegen die große Koalition. Die Partei hat sich dann anders entschieden, und als gute Demokraten haben wir das mitgetragen. Jetzt aber sind alle Befürchtungen eingetroffen. In Rheinhausen-Mitte hatten wir bei der Europawahl zwar noch eine drei vorne, aber wir kommen hier von über 50 Prozent. Das ist frustrierend, ebenso wie die unklare Lage an der Parteispitze. Wir werden hier an der Basis trotzdem weitermachen. Es geht hier ja gar nicht so sehr um die große Politik - sondern darum, sich um unseren Ort und um die Leute zu kümmern. Um den Lkw-Verkehr, der hier viele Menschen nervt, oder um die nächste Bordsteinabsenkung. Da gibt es dann durchaus das eine oder andere Erfolgserlebnis, und abends, wenn man schlafen geht, weiß man, wofür man das macht.

Omar Shehata, 27, Frankfurt

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(Foto: Privat)

Die SPD muss weg von Hinterzimmer-Entscheidungen. Die Nachfolger an der Parteispitze wurden bisher fast wie in einer Erbmonarchie ernannt. Die Mitglieder sollten den Vorsitzenden oder die Vorsitzende per Urwahl bestimmen, vielleicht auch eine Doppelspitze. Davor sollten die Kandidaten durchs Land touren und ihr Programm vorstellen. Ich sage es ungern, so ein bisschen wie die CDU es gemacht hat, nur auf basisdemokratische Art. Ich bin nicht für ein sofortiges Ende der Koalition, aber für ein perspektivisches. Spätestens Ende des Jahres oder zur Halbzeitbilanz sollte man sagen: Wir müssen uns erneuern. Wenn wir bei der nächsten Wahl ein schlechtes Ergebnis bekommen, dann ist es eben so. Aber das ist mir lieber, als wenn wir 2021 bei fünf Prozent liegen - ich denke, das würde passieren, wenn wir in der großen Koalition bleiben.

Zu Gast in der Fraktion sind die Parteivizes Manuela Schwesig, Regierungschefin in Mecklenburg-Vorpommern, und Thorsten Schäfer-Gümbel, Landeschef in Hessen. Die beiden bilden zusammen mit Malu Dreyer, Parteivize und Regierungschefin von Rheinland-Pfalz, das neue kommissarische Führungstrio der SPD.

Schäfer-Gümbel kennt sich aus mit einer am Boden zerstörten SPD - eine solche hatte er 2009 in Hessen nach dem Fiasko um seine Vorgängerin Andrea Ypsilanti übernommen. Ypsilanti war mit dem Vorhaben gescheitert, sich trotz gegenteiligen Versprechens mithilfe der Linken zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen. Das Misstrauen unter den Politikern war groß damals. Es hat Jahre gedauert, den Landesverband wieder zu befrieden. Schäfer-Gümbel erinnerte in der Sitzung daran.

© SZ vom 05.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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