Soziale Probleme:Draußen sein und draußen bleiben

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Weniger Sozialbauten, mehr Singles, mehr Zuwanderer: Warum die Wohnungsnot so groß geworden ist - und viel zu wenig geschieht, das zu ändern.

Von Thomas Öchsner

Als die Gerichtsvollzieherin an die Tür klopfte, war es schon zu spät: Rosemarie F. hatte ihre Mietwohnung in Berlin wenige Tage vor der Zwangsräumung bereits verlassen. Kurze Zeit später starb die 67-jährige Rentnerin in einer Obdachlosenunterkunft. Die alte Dame hatte Mietrückstände, ihre Post nicht mehr geöffnet, einen wichtigen Gerichtstermin versäumt. Der Fall, den das Berliner Protestbündnis "Zwangsräumung verhindern" publik machte, liegt zwar schon einige Jahre zurück. Doch er führt mitten hinein in die Misere von Menschen, die ihre Wohnung verlieren. Sie stecken oft in einer wirtschaftlichen Notlage, sind überschuldet oder schon lange arbeitslos. Häufig kommen familiäre Konflikte hinzu wie Scheidungen. Alkohol, Drogen oder psychische Leiden verschlimmern die Probleme.

Schicksale wie das von Rosemarie F. gehören in Deutschland zum Alltag. Allein in Berlin soll es 5000 Zwangsräumungen pro Jahr geben. Und immer mehr Menschen sind wegen der Wohnungsnot in vielen Städten obdachlos oder ohne Wohnung. Das zeigen die neuen Zahlen, die die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) am Dienstag in Berlin vorgelegt hat. Demnach lebten im vergangenen Jahr in Deutschland etwa 52 000 Menschen ohne jede Unterkunft auf der Straße, darunter viele Migranten aus EU-Staaten wie Polen, Rumänien oder Bulgarien. 2014 waren es noch 13 000 weniger. Deutlich größer wird die Zahl, wenn man die Wohnungslosen hinzurechnet, also diejenigen, die keine eigene Wohnung haben, aber noch irgendein Dach über dem Kopf, zum Beispiel in einer Notunterkunft. Diese Zahl wuchs 2016 auf 860 000 Menschen. Seit 2014 ist dies ein Anstieg um 150 Prozent oder mehr als 500 000. Dies ist vor allem auf die vielen Flüchtlinge zurückzuführen, die vergeblich eine feste Bleibe suchen. Die Zahlen beruhen auf Schätzungen der BAGW, der große Sozialverbände wie die Arbeiterwohlfahrt oder die Caritas angehören, die sich um Wohnungslose kümmern. Offiziell wird die bundesweite Zahl der Obdachlosen nicht erhoben. Thomas Specht, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft, sagt: "Die Zuwanderung hat die Gesamtsituation dramatisch verschärft, aber die wesentlichen Ursachen für Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit liegen in einer seit Jahren verfehlten Wohnungspolitik in Deutschland."

Immer häufiger anzutreffen: Menschen, die auf der Straße leben, hier in einer Unterführung in Stuttgart. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Die Arbeitsgemeinschaft unterteilt die Wohnungslosen in zwei Gruppen: Etwa die Hälfte sind anerkannte Flüchtlinge, die überwiegend in Gemeinschaftsunterkünften leben. Die andere Hälfte hat ebenfalls kein festes Zuhause für sich, ohne zu den Geflüchteten zu gehören. Über diese zweite Gruppe weiß man einiges aus den Angaben von 176 Einrichtungen und Diensten der bundesdeutschen Wohnungslosenhilfe, welche den Hintergrund von etwa 33 000 Hilfesuchenden analysiert hat: Mehr als zwei Drittel sind demnach alleinstehend und männlich. 27 Prozent erhielten ihre Kündigung durch den Vermieter. Fast die Hälfte ist von selbst mit oder ohne Kündigung aus der Wohnung ausgezogen.

2016 wurden bundesweit gerade einmal 24 550 Sozialwohnungen errichtet

Auf dem Wohnungsmarkt sieht Geschäftsführer Specht vor allem zwei Probleme. Erstens: "Das Angebot an bezahlbarem Wohnraum ist unzureichend." So ist der Bestand an Sozialwohnungen seit 1990 um etwa 60 Prozent zurückgegangen. Derzeit gibt es in Deutschland noch etwa 1,4 Millionen Sozialwohnungen. Früher sah es deutlich besser aus: Im Jahr der Volkszählung 1987 gab es allein im Westen des Landes noch etwa vier Millionen. Seitdem werden es immer weniger. Jedes Jahr läuft für mehr als 50 000 Sozialwohnungen die Mietpreisbindung aus, das heißt, der Vermieter kann die Miete deutlich erhöhen. Das Bündnis Wohnen, dem neben dem Deutschen Mieterbund und der IG Bau vier weitere Verbände der Branche angehören, fordert deshalb, 80 000 Sozialwohnungen im Jahr zu bauen. Tatsächlich wurden 2016 bundesweit gerade einmal 24 550 Sozialwohnungen errichtet. Das waren zwar knapp 10 000 mehr als im Jahr zuvor - aber die Zahl liegt noch immer weit unter dem Bedarf. Zusätzlich haben viele Kommunen, Länder und der Bund ihre eigenen Wohnungsbestände an große Immobilienkonzerne und andere private Investoren verkauft, die sich naturgemäß vor allem für ihre Rendite interessieren. "Damit haben sie Reserven bezahlbaren Wohnraums aus der Hand gegeben", kritisiert Specht.

Problem Nummer zwei: Es fehlen Millionen Kleinwohnungen. Die große Gruppe der Singles sucht in Städten nach günstigen Ein- und Zweizimmer-Wohnungen. Doch die gibt es häufig nicht. Dies habe zum starken Anstieg der Mietpreise beigetragen, sagt Specht. Dieter Puhl, der die evangelische Bahnhofsmission am Berliner Zoo leitet, hält das Wohnen mittlerweile für das größte soziale Problem in Deutschland. "Vor 20 Jahren konnten in Berlin noch Gering- oder Durchschnittsverdiener problemlos ihre Miete zahlen. Heute wird das bei Neuanmietung einer Wohnung zunehmend schwierig, weil viele Menschen immer mehr von ihrem Einkommen für die Miete ausgeben müssen", sagt er.

Karin Kühn, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, fordert eine mögliche Jamaika-Koalition deshalb auf, in einen Koalitionsvertrag Sofortmaßnahmen gegen einen weiteren Anstieg der Wohnungslosigkeit aufzunehmen. Der Bund müsse mehr Verantwortung tragen, vor allem über 2019 hinaus. Bisher überweist der Bund den Ländern Jahr für Jahr 1,5 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau. Eine Vereinbarung mit Verfallsdatum: Sie gilt nur bis 2019.

© SZ vom 15.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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