Sozialdemokratie:Pessimismus ist von gestern

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Sein sozialistischer Großvater habe ihm eingeimpft, worauf es ankomme: Niemals zufrieden zu sein mit dem Erreichten. Frans Timmermans nach seiner Wahl zum Spitzenkandidaten für die Europawahl. (Foto: AFP)

Frans Timmermans, sozialdemokratischer Spitzenkandidat für die Europawahl, will "dieses Ding gewinnen".

Von Matthias Kolb, Lissabon

Die passende Musik hat Frans Timmermans aus seiner Heimat mitgebracht. "Let's stick together", singt der 27-jährige Niederländer Jett Rebel, während der per Akklamation gekürte Spitzenkandidat für die Europawahl junge Parteimitglieder auf der Bühne begrüßt. Dynamisch, bunt, solidarisch: So wollen sich die Sozialdemokraten präsentieren, und die Liedzeile "Lasst uns zusammenhalten, dann kann nichts schiefgehen" unterstreicht nicht nur Timmermans' Appell für eine ambitionierte, nach außen geeint auftretende Europäische Union. Sie ist auch ein Auftrag an die kriselnde Sozialdemokratie, die kaum Chancen hat, die Europäische Volkspartei (EVP) Ende Mai zu überholen - 2017 erreichte die "Partei von der Arbeit" in den Niederlanden nur 5,7 Prozent.

Doch Pessimismus will der Erste Vizepräsident der EU-Kommission nicht aufkommen lassen. "Lasst uns kämpfen und dieses Ding gewinnen", ruft er den 1000 Delegierten im Kongresszentrum der Universität von Lissabon zu. Sein Großvater sei Bergmann, Gewerkschaftler und Sozialist gewesen und habe ihm eingeimpft, worauf es ankomme: "Wir dürfen nie mit dem Erreichten zufrieden sein, sondern müssen stets danach streben, die Welt besser zu machen für unsere Kinder und Enkel."

Für Timmermans wird die EU vor allem dadurch besser, indem sie Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz verteidigt und mehr Gerechtigkeit anstrebt. Also plädiert er dafür, die Löhne europaweit anzugleichen: "Warum sollen Arbeiter in einer Autofabrik schlechter bezahlt werden, nur weil sie in einem anderen Land steht? Die Arbeit wird doch genauso gut gemacht." Der 57-Jährige fordert eine Digitalsteuer für die großen Tech-Firmen ("auch für die aus Europa") und sagt der wachsenden Ungleichheit den Kampf an: "Wenn jedes vierte Kind in Europa von Armut bedroht ist, dann ist es höchste Zeit, dass die Superreichen die Steuern zahlen, die sie schulden."

Der Vater von zwei Söhnen und zwei Töchtern weiß, dass viele von einer Spitzenkandidatin geträumt hatten: "Ich bin keine Frau, das kann ich nicht so schnell ändern. Alles was ich anbieten kann, ist ein männlicher Feminist." Es sei "skandalös", dass Frauen in Europa noch immer schlechter bezahlt würden als Männer und im Schnitt 40 Prozent weniger Rente erhielten. Timmermans, der ein halbes Dutzend Fremdsprachen beherrscht und anders als der EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber von der CSU als Ex-Außenminister viel Regierungserfahrung hat, plädiert dafür, dass die EU selbstbewusst gegenüber den Präsidenten Russlands und der USA auftritt. Es gebe genügend Belege, dass Wladimir Putin "unsere Lebensweise bedroht", und Donald Trump sei "der erste Präsident, der glaubt, dass es im amerikanischen Interesse ist, wenn Europa gespalten ist", ruft er.

Donnernd ist der Applaus, als Timmermans den Brexit als Tragödie bezeichnet und sagt, dass Großbritannien "immer mehr als willkommen" in der EU sein werde. Aber er spricht offen aus, dass ihn Labour-Chef Jeremy Corbyn am Freitag nicht überzeugt hat: All seine Ziele wie höhere Löhne und mehr Arbeitnehmer-Rechte ließen sich in der EU besser umsetzen als außerhalb. In Sachen Brexit war der Auftritt des Briten ernüchternd und lässt sich mit "Theresa May hat schlecht verhandelt, Labour würde einen viel besseren Deal hinkriegen" bilanzieren. Details? Fehlanzeige, weshalb mehrere EU-Abgeordnete noch immer den Kopf schüttelten, als Corbyn nach vielen Selfies mit Aktivisten und Delegierten den Saal verlassen hatte.

Wird er Nachfolger von Jean-Claude Juncker? Das muss das Parlament entscheiden

Dass Corbyn für seine kompromisslose Kapitalismuskritik gefeiert wird, macht klar, wie viele Sozialdemokraten in einem dezidiert linken Wahlkampf das beste Erfolgsrezept sehen - und manche am moderaten Timmermans zweifeln. Durch den Austritt Großbritanniens verliert die Fraktion der Sozialdemokraten 20 EU-Abgeordnete und hat damit noch mehr Nachteile gegenüber der christdemokratischen EVP, da die konservativen Tories deren Parteienfamilie längst verlassen haben. Aktuellen Umfragen zufolge dürfte die EVP bei der Europawahl mit etwa 180 Mandaten erneut stärkste Kraft werden, während die Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten von heute 187 auf 142 sinken dürfte.

Trotz der düsteren Ausgangslage betonen Sozialdemokraten in Lissabon und Brüssel, dass Timmermans durchaus Chancen habe, Jean-Claude Juncker als Chef der EU-Kommission nachzufolgen. Ihr Argument: Es kommt nicht darauf an, welche Gruppierung auf dem ersten Platz lande, sondern wer eine Mehrheit im Europäischen Parlament finden könne. Mit den Grünen und der Linken gäbe es viele Überschneidungen, die Ziele "Fairness, Freiheit und Nachhaltigkeit" umzusetzen. Damit fällt höchstwahrscheinlich den Liberalen der Alde-Gruppe die Rolle des Königsmachers zu - und diese haben sich mit Emmanuel Macron und dessen Bewegung "La République en Marche" verbündet.

In Lissabon wurde Frankreichs Präsident aber nicht umworben, sondern attackiert. Der Protest der "Gelben Westen" zeige, dass dessen Ansatz gescheitert sei, Reformen "von oben" und "gegen den Willen der Bürger" durchzusetzen, sagt etwa der SPD-Politiker Udo Bullmann. Der Fraktionschef im EU-Parlament nennt Macron einen "Eliten-Präsident der Superreichen", der seinen Kurs ändern müsse: "Wenn er das nicht versteht, ist er ein Konkurrent."

Am liebsten redet die Linke zurzeit über Portugal, wo die Sozialdemokraten den Premier stellen. Gastgeber António Costa wird bejubelt, wenn er berichtet, dass sein Land das "Kapitel der Sparmaßnahmen" geschlossen habe und der Mindestlohn um 20 Prozent gestiegen sei. Am besten umschreibt aber der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez die Lage, wenn er ruft: "Alle sagen, die Zeiten sind schwer für die Sozialdemokraten. Ich frage euch: Wann waren sie denn mal leicht? Packen wir es gemeinsam an!"

© SZ vom 10.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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