Sicherheitspolitik:Charme-Offensive Richtung Osten

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Südfrankreich, im August: Russlands Präsident Putin (li.) zu Besuch bei seinem französischen Kollegen Macron in dessen Sommerresidenz. (Foto: REUTERS)

Wie kann Europa sicher besser selbst schützen? Frankreichs Außenminister hat ein paar Vorschläge: zum Beispiel wieder mehr mit Russland reden.

Von MATTHIAS KOLB, Prag

Zwei Tage nach dem Nato-Treffen in London, das von Debatten über die "Hirntod"-Aussage des französischen Präsidenten Emmanuel Macron über das Bündnis geprägt war, hat Außenminister Jean-Yves Le Drian in einer Rede Umrisse einer neuen Sicherheitsarchitektur in Europa skizziert. Der Auftritt an der Karlsuniversität in Prag zeigt, dass Frankreich weiter dafür wirbt, mit Russlands Präsident Wladimir Putin in einen Dialog "ohne Naivität" zu treten und die von Macron per Interview angestoßene Debatte über eine stärkere Souveränität Europas 2020 mit voller Kraft weiterführen will.

"Europa muss sich um sein eigenes Schicksal kümmern", fordert Le Drian. Er führt aus, dass der Terrorismus nicht die einzige Bedrohung sei: "Der Krieg ist zurück in Europa, in Georgien und der Ukraine. Chemische Waffen wurden in einer bedeutenden Stadt Europas eingesetzt. Mit Cyberattacken wird versucht, die Fundamente unserer Demokratien zu sabotieren und zu unterminieren." Frankreichs Außenminister spricht klar aus, dass Russland mit "aggressiven Aktionen" seit 2009 das strategische Umfeld erschüttert habe.

Dann wiederholt Le Drian, was Bundeskanzlerin Angela Merkel schon 2017 aussprach: Die Zeit, in der sich Europa für den Schutz der eigenen Sicherheit völlig auf andere verlassen konnte, sei vorbei. Folglich müssten sich die EU-Staaten stärker militärisch engagieren - wie es Frankreich in Nahost und der Sahelregion bereits tut. Und sie sollten "strategische Autonomie" anstreben. Dies entspreche jener fairen "Lastenteilung", die US-Präsident Donald Trump in der Nato seit seinem Amtsantritt einfordert. Le Drian betont, dass Paris das transatlantische Bündnis nicht ersetzen, sondern stärken wolle.

Er versichert: "Unsere Verbündeten können sich darauf verlassen, dass Frankreich und sein Militär ihre Sicherheit verteidigt. Immer." Macron, der im Economist Zweifel an der Beistandspflicht hatte erkennen lassen, zeigte sich in London stolz darüber, eine notwendige Debatte angestoßen zu haben. In Prag sagt sein Chefdiplomat: Die "aktuelle Unpässlichkeit"der Allianz könne nur überwunden werden, wenn eine "echte strategische Diskussion" geführt werde. Bald sollen Experten unter Leitung von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg einen Report vorlegen. Le Drian verweist auf ein zentrales Nato-Dokument: Der Harmel-Bericht schrieb 1967 den bis heute gültigen Ansatz von "Abschreckung und Dialog" fest. Die gleiche Absicht habe Macron mit seinem Vorschlag einer europäischen "Architektur für Sicherheit und Vertrauensbildung". Sie soll den Prinzipien der "Charta von Paris" folgen, die 1990 von der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa festgeschrieben wurde und die auch Moskau akzeptiert hat. Dann kommt Le Drian auf eine umstrittene Idee Macrons zu sprechen: Wenn man die aktuelle Sicherheitslage ändern wolle, "dann ist es Russland, mit dem wir wieder einen Dialog führen müssen". Es folgt eine akkurate Beschreibung des Ist-Zustands: Der INF-Vertrag ist nach 32 Jahren ausgelaufen; es ist unklar, ob das "New Start"-Abkommen über strategische Atomwaffen von den USA und Russland verlängert wird. Europa ist zum Zuschauen verdammt. Aber Le Drian sagt nicht, welche Auflagen Moskau erfüllen müsste, um Interesse an einer Art Neustart zu beweisen. Denn es ist Russland, das den INF-Vertrag seit Jahren bricht und in EU-Staaten mutmaßlich Regimegegner ermorden lässt. Der Auftritt wird auch jenen EU-Diplomaten nicht helfen, die betonen, dass es trotz Sanktionen und der Krim-Annexion doch weiter Kontakt mit Putin gibt: etwa am Montag beim Normandie-Gipfel in Paris.

Im Gegensatz zur Rede, die Macron Ende August vor den französischen Botschaftern hielt, spielen die Folgen von Chinas Aufstieg bei den Ausführungen seines Außenministers keine große Rolle. Er nennt aber eine Zukunftsfrage: Europa müsse "digital souverän" werden und Standards setzen, etwa bei künstlicher Intelligenz.

Dass sich Le Drian in Prag, im "Herzen Europas", äußert, ist kein Zufall. Macrons Charmeoffensive gegenüber Putin, die im August vor dem G-7-Gipfel in Biarritz begann, stößt unter den neuen EU-Mitgliedern auf Unverständnis. Doch im Vergleich zu Polen, Estland, Lettland oder Litauen ist Tschechien nicht so kremlkritisch. Da der Auftritt Teil der Konferenz "Beyond 1989" ist, präsentiert Le Drian die Vorschläge als Lehren der Geschichte und betont: Europäische Souveränität heiße nicht, die nationale aufzugeben. Er schmeichelt den Gastgebern und zitiert den Schriftsteller Milan Kundera, der 1983 sagte, dass es "Osteuropa" nicht gebe: Dies sei eine Erfindung des Kalten Krieges. Le Drian gibt zu, dass ihm bei 1989 "zuerst Bilder vom Fall der Berliner Mauer" einfielen und nicht die Menschenkette zwischen den baltischen Staaten, deren Bürger darum kämpften, von der Sowjetunion unabhängig zu werden. Das Wissen über verschiedene Erinnerungen müsse wachsen: "Alle Europäer, auch die Franzosen, müssen zuhören und dies verstehen."

© SZ vom 07.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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