Die neuen Zahlen machen Angst. Fast jeder zweite Schulleiter stellt fest, dass mindestens einer seiner Schüler in den vergangenen Jahren von sexuellem Missbrauch berichtet hat. Eltern, die diese Nachricht lesen, verspüren Panik: Geht es an unseren Schulen immer noch zu wie vor einigen Jahrzehnten, als Lehrer ohne Risiko übergriffig werden konnten?
Die neuen Zahlen sollte man vorsichtig lesen. Meist betreffen Verdachtsfälle die Schulen nur in dem Sinne, dass Lehrer davon erfahren haben - die Täter sind nach wie vor am häufigsten in den Familien der Opfer zu finden. Doch auch bei einer vorsichtigen Interpretation bleibt der Kern der Statistik verstörend: An jeder 25.Schule und in jedem zehnten Heim wurde in den vergangenen drei Jahren ein Mitarbeiter verdächtigt, Kinder sexuell übergriffig behandelt zu haben, worunter alles von der verbalen Anmache über das Begrapschen bis zur Vergewaltigung zählt. Sexueller Missbrauch scheint alltäglich zu sein.
Die Zahlen irritieren auch, weil das Böse nicht mehr am Rand der Gesellschaft erscheint, sondern in der Mitte. Bedrohliche Fragen stellen sich: Wozu sind die braven Menschen in meiner Umgebung fähig? Was verbergen die Lehrer meiner Kinder, meine Nachbarn, meine Angehörigen, was verberge ich selbst? Wer das zu fragen wagt, gibt individuelle Gewissheiten auf; die Stabilität der eigenen Lebenswelt schwindet zunächst.
Weil das schmerzhaft ist, wurde über massenhaften sexuellen Missbrauch in Internaten, Heimen und anderen renommierten Institutionen jahrzehntelang geschwiegen. Es erschien kaum vorstellbar, dass der nette Herr Pfarrer - und nicht der kranke Psychopath - möglicherweise gerne Jungen vergewaltigt. Sexueller Missbrauch an Kindern blieb in der deutschen Gesellschaft auch deshalb lange ein Tabu, weil die Wirklichkeit so unvorstellbar war. Die Opfer des Missbrauchs, denen niemand zuhören wollte, haben die Macht dieses Tabus erlebt.
Das Kartell des Schweigens ist gebrochen
Deshalb ist es eine enorme Leistung, dass das öffentliche Sprechen über den Missbrauch begonnen hat. Es entlastet die Opfer von gestern, die jetzt zum ersten Mal erleben, dass ihren Erzählungen geglaubt wird. Und es senkt das Risiko für die Kinder von heute. Denn diese Debatte macht allen deutlich, dass sich die Werte der Gesellschaft verschoben haben: Früher war das Wohl der Institutionen - der Pfarrei, der Schule, des Kinderheims - wichtiger als das Wohl der Kinder; inzwischen gilt dieses Prinzip nicht mehr. Das Kartell des Schweigens ist gebrochen. Das ist auch ein Warnsignal an die Täter.
Nur wer das Tabu bricht, kann etwas verändern. Nur wer die bedrohlichen Fragen stellt, findet auch Antworten, die Sicherheit vermitteln. Zum Beispiel die, dass sexueller Missbrauch in Institutionen seltener geworden ist: Wer sein Kind heute in ein Internat gibt, setzt es einem geringeren Risiko aus als in den achtziger oder gar sechziger Jahren.
Dennoch bleiben Tatsachen, die die Gesellschaft bisher nicht zur Kenntnis genommen hat. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass viele Missbrauchstäter nicht unter Erwachsenen, sondern unter Jugendlichen zu finden sind. Gerade in Heimen und Internaten ist sexuelle Gewalt zwischen Minderjährigen verbreitet, wie das Deutsche Jugendinstitut nachweist. Dass Schüler Schwächere vergewaltigen: Als Leser von Hermann Hesse würde man das in einer Anstalt des Jahres 1910 vermuten, aber nicht in der Gegenwart. Doch es ist wohl wahr: Gerade in Heimen treffen Kinder aufeinander, die selbst Gewalt erfahren haben - manchen von ihnen dient Sexualität dazu, andere zu erniedrigen. Und Internate bieten sexuell aggressiven Jugendlichen offenbar immer noch zu viele Gelegenheiten, ihre Mitschüler zu demütigen.
Grausame Vorstellungen, gewiss. Doch auch hier gilt: Nur wer diese Realität wahrnimmt, kann Kinder besser schützen.