Schweiz:Zwinglis Erbin

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Setzt auf Ökumene und gilt als dialogbereit: Rita Famos war von 2013 bis 2014 sie Präsidentin der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen der Schweiz. Jetzt übernimmt sie die Führung der Evangelisch-reformierten Kirche. (Foto: Pia Neuenschwander/SEK)

Die schweizerischste aller Konfessionen wird künftig von einer Frau geführt: Die Pfarrerin Rita Famos wird im Januar 2021 das Präsidium der Evangelisch-reformierten Kirche übernehmen, historisch die tragende Kraft des ganzen Bundesstaates.

Von Isabel Pfaff, Bern

"Viele reformierte Frauen haben seit 100 Jahren auf diesen Moment hingearbeitet", sagt Rita Famos. "Meine Wahl war jetzt einfach der logische Schritt." Seit Kurzem steht fest, dass die Pfarrerin im Januar 2021 das Präsidium der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) übernehmen wird. Dieses Bündnis aus 26 Einzelkirchen, meist kantonal organisiert, existiert seit 1920 und repräsentiert derzeit etwa zwei Millionen Gläubige - ein knappes Viertel der Schweizer Bevölkerung. Die 54-jährige Rita Famos ist die erste Frau an deren Spitze.

Hektische Tage für die frisch gewählte Präsidentin, die derzeit noch für die Landeskirche Zürich arbeitet. Famos hat Zeit für ein kurzes Videointerview, mehr ist diese Woche nicht drin. Ihre Wahl erregt nicht nur Aufsehen, weil es nun mal eine kleine Sensation ist, wenn die Reformierten als die wohl bedeutendste Religionsgruppe der Schweiz erstmals eine Frau wählen. Rita Famos ist außerdem auch die Nachfolgerin von Gottfried Locher. Der charismatische Pfarrer leitete die EKS, die bis 2019 noch Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund hieß, fast zehn Jahre lang. Unter Beobachtern gilt er als derjenige, der mit Eloquenz und medialer Präsenz dem nationalen Kirchengremium überhaupt erst sein heutiges Gewicht verschafft hat.

Letztlich stolperte Locher aber über menschliche Verstrickungen: Im Frühsommer dieses Jahres wurde bekannt, dass eine ehemalige EKS-Mitarbeiterin den Vorwurf sexueller Grenzüberschreitungen gegen ihn erhoben hatte. Im Zuge der Affäre kam außerdem ans Licht, dass der verheiratete Locher in der Vergangenheit ein Verhältnis mit einer Kollegin im EKS-Rat hatte. Die Gerüchte und Anschuldigungen stürzten den Kirchenbund in eine Krise, Locher trat Ende Mai zurück, und die EKS ist noch immer mit der Aufarbeitung der Affäre beschäftigt.

Für die Locher-Nachfolge hatte sich neben Rita Famos noch eine weitere Frau aufgestellt, einen männlichen Kandidaten gab es nicht. Ein Trümmerfrauen-Moment bei den Reformierten? Rita Famos schüttelt den Kopf. Allerdings, sagt sie, habe sie von einigen Männern gehört, die sich bewusst nicht aufgestellt hätten - als eine Art Zeichen der Wiedergutmachung nach der Causa Locher. Abgesehen davon hält sie es schlicht für ein "Phänomen unserer Zeit", dass sich Frauen verstärkt zur Wahl stellen und dann auch gewählt werden. Famos erwähnt die vergangenen Schweizer Parlamentswahlen und den seither deutlich erhöhten Frauenanteil in der Politik. "Ich glaube, wir Reformierte sind ein recht gutes Abbild der schweizerischen Gesellschaft, und durch diese Gesellschaft geht gerade ein nächster Ruck, was Frauen betrifft."

Tatsächlich kann man die Reformierten als die schweizerischste aller Konfessionen des Landes bezeichnen. Sie geht zurück auf die Reformatoren in Zürich und Genf, Zwingli und Calvin, und grenzt sich deutlich von anderen protestantischen Strömungen wie den Lutheranern oder Anglikanern ab. Die kirchlichen Strukturen der Reformierten gleichen denen der politischen Schweiz: Pfarrgemeinden und Kantonalkirchen haben ähnlich viel Macht und Autonomie wie die politischen Gemeinden und Kantone, und so wie die Schweiz allgemein legen auch die Reformierten Wert auf ihre liberale Grundhaltung.

Der Lausanner Religionssoziologe Jörg Stolz bezeichnet die Reformierten als "eine tragende Kraft für den 1848 entstandenen Schweizer Bundesstaat". In den ersten Jahrzehnten, so Stolz, seien alle Mitglieder des Bundesrates evangelisch-reformiert gewesen. Inzwischen ist das nicht mehr so, und auch zahlenmäßig haben die Reformierten ihre Spitzenposition verloren: Mehr als die Hälfte der Schweizer Bevölkerung gehörte ihr Mitte des 20. Jahrhunderts an. Heute ist ihr Anteil auf rund 23 Prozent geschrumpft. Mittlerweile gibt es im Land mehr Katholiken, deren Anteil vor allem wegen der Einwanderung aus dem südlichen Europa zugenommen hat. Trotzdem: "Immer noch haben die reformierten Kirchen in fast allen Kantonen eine öffentlich-rechtliche Anerkennung und ein traditionell enges Verhältnis zu den staatlichen Institutionen", sagt Jörg Stolz.

Für den Soziologen ist die Wahl von Rita Famos eine Art Rückkehr der Reformierten zu ihrem traditionellen Wesen: "Reformierte sind extrem individualistisch, vielfältig und streitlustig. Das verlangt nach moderierender Führung und verträgt sich nicht mit zu viel Autorität von oben." Famos' Vorgänger sei manchen Kirchenmitgliedern in dieser Hinsicht "zu katholisch" gewesen. Gottfried Locher machte sich unter anderem für ein Bischofsamt stark, das es bei den Refomierten nicht gibt. Rita Famos jedenfalls sagt: "Ich möchte eine partizipative Führungskultur etablieren."

Anders handhaben als ihr Vorgänger will sie auch die ökumenische Zusammenarbeit. Während Locher vor allem die Kontakte zur katholischen Kirche gepflegt habe, möchte Famos auch die Orthodoxen oder evangelische Freikirchen einbeziehen. Tatsächlich gibt es in der Schweiz eine beachtliche Anzahl von Freikirchen: Das Bundesamt für Statistik geht von einem Bevölkerungsanteil von zwei bis drei Prozent aus. Insbesondere das Zürcher und das Berner Oberland gelten als die "Bible Belts" der Schweiz. "Multilaterale Ökumene" nennt Rita Famos die Zusammenarbeit mit den vielen christlichen Konfessionen des Landes. Übung hat sie darin jedenfalls: Von 2013 bis 2014 war sie Präsidentin der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen der Schweiz.

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