Schweiz:Klimarutsch

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Bei Wahlen liegen grüne und linke Parteien immer öfter vorn. Gut möglich, dass die absolute Mehrheit des bürgerlichen Lagers im Parlament bald Geschichte sein wird.

Von Isabel Pfaff

In der Schweiz wird nicht auf Basis von Wahlergebnissen regiert, sondern nach der Zauberformel. Ein Witz ist das nicht: Zauberformel heißt der festgelegte Parteienschlüssel, nach dem sich der Bundesrat, das siebenköpfige Regierungsgremium des Landes, zusammensetzt. Die Formel gilt unabhängig von den aktuellen Kräfteverhältnissen im Parlament, sie hat aber dennoch den Anspruch, den Wählerwillen ungefähr widerzuspiegeln. So blieb der Schlüssel über mehr als 40 Jahre unverändert - bis 2003 der steile Aufstieg der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) nicht mehr zu ignorieren war und sie deshalb einen zweiten Sitz im Bundesrat erhielt.

Es könnte sein, dass die Zauberformel dieses Jahr erneut verändert wird - in der sonst so beständigen Schweiz. Drei Kantone haben gerade gewählt, darunter Zürich, das traditionell als Gradmesser für die Bundeswahlen gilt. Überall dasselbe Muster: Zugewinne für Grüne und Linke - und Verluste im sogenannten bürgerlichen Lager, also bei den Freisinnigen, Christdemokraten und vor allem bei der SVP. Knapp sieben Monate vor den nationalen Wahlen ist etwas in Bewegung geraten in der konservativen Schweiz.

Das fein austarierte politische System der Eidgenossen, das Kantonen, Gemeinden und jedem Einzelnen viel Macht einräumt, neigt eigentlich nicht zu schnellen Entschlüssen. Gesellschaftlicher Wandel braucht in der Schweiz viel Zeit - das erst 1971 eingeführte Frauenwahlrecht ist nur ein Beispiel. Die jüngere Schweizer Geschichte gibt außerdem wenig Anlass, das Land umkrempeln zu wollen: Es lief und läuft relativ gut in dem Alpenstaat. Um die historisch gewachsene bürgerliche Mehrheit infrage zu stellen, muss also viel passieren. Vielleicht ist es jetzt so weit. Beobachter sprechen von einem Klimarutsch in der Schweiz: Die Debatte um die Erderwärmung hat die breite Gesellschaft erreicht, auch in Schweizer Städten füllen Schüler freitags die Straßen. Der Druck ist so groß geworden, dass auch die freisinnige FDP, die in der Schweiz zum rechten Lager zählt, gerade versucht, ihre Basis zur Klimawende zu bewegen.

Die absolute Mehrheit des bürgerlichen Lagers könnte bald Geschichte sein

Die SVP hält dagegen stur Kurs. Ihre Parteioberen hetzen gegen die angebliche Klimalüge, sprechen von der "Infantilisierung der Politik" durch die streikenden Schüler. Doch anders als in früheren Wahljahren gelingt es der SVP diesmal nicht, den Nerv der Bevölkerung zu treffen. Ähnlich ergeht es der Partei mit ihrer bislang so erfolgreichen migrationsfeindlichen Haltung. Der Kampf gegen Einwanderer bewegt die Schweizer gerade nicht besonders. Bleibt das Reizthema Beziehungen zur EU: Auch hier können nur wenige mit der Totalblockade der SVP etwas anfangen, wie eine Umfrage zeigt.

Die Anzeichen mehren sich, dass die Ära der Abschottung und damit der Höhenflug der SVP zu Ende geht. Selbst wenn die Partei im Herbst wieder die meisten Stimmen holen sollte, ist es gut möglich, dass die absolute Mehrheit des bürgerlichen Lagers im Parlament Geschichte sein wird - es wäre das erste Mal seit mehr als 170 Jahren.

Eine links-grüne Welle auf Bundesebene würde den Kurs der Schweiz verändern: mehr Öffnung nach außen, mehr Distanz zur Wirtschaft. Sie könnte aber auch die Zauberformel ins Wanken bringen. Setzt sich der Siegeszug der Grünen fort, könnten sie einen Sitz im Bundesrat einfordern. Und die Schweiz würde sich wieder ein kleines Stück bewegen.

© SZ vom 05.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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