Schweiz:Grün oder Tessin

Lesezeit: 3 min

Ignazio Cassis versteht Schweizer Außenpolitik vor allem als Außenwirtschaftspolitik. (Foto: Gabriele Putzu/AP)

Bei den Bundesratswahlen wollen die Grünen den Sitz von Außenminister Cassis erobern. Dabei ist er seit Langem der erste Vertreter des Südkantons.

Von Isabel Pfaff, Bern

Ignazio Cassis ist 58 Jahre alt, Mediziner und seit 2017 Mitglied der Schweizer Regierung, des Bundesrats. Vor allem aber ist Cassis Tessiner. Dieser Umstand spielte eine wichtige Rolle bei seiner Wahl in den Bundesrat, schließlich heißt es in der Schweizer Verfassung, dass die Landesgegenden und Sprachregionen "angemessen" in der Regierung vertreten sein sollen. Dass das kleine italienischsprachige Tessin mit seinen gut 350 000 Einwohnern nicht immer im siebenköpfigen Bundesrat vertreten sein kann, sehen auch die Tessiner ein - aber bis zur Wahl von Ignazio Cassis hatte es eben 18 Jahre lang keinen Minister mehr aus dem Südkanton gegeben. Der zierliche Mann, der neben seiner Muttersprache Italienisch auch fließend Französisch und Deutsch spricht, war also praktisch gesetzt, als nach dem Rücktritt von Didier Burkhalter ein Platz der liberalen FDP im Bundesrat frei wurde.

Nun ist es ausgerechnet Ignazio Cassis, der nach dem historischen Wahlerfolg der Grünen in die Schusslinie gerät. Denn die erstarkte Öko-Partei erhebt Anspruch auf einen der sieben Bundesratssitze, die an diesem Mittwoch vom Parlament besetzt werden. Traditionell setzt sich der Bundesrat nach der sogenannten Zauberformel zusammen: Je zwei Sitze für die drei stärksten Parteien im Parlament, ein Sitz für die viertstärkste Kraft. Bisher zählten die Grünen nicht zu den Bundesratsparteien, aber mit neuerdings 13,2 Prozent Wähleranteil gehören sie nun rein rechnerisch dazu.

Sie schicken deshalb eine eigene Kandidatin ins Rennen, ihre Parteipräsidentin Regula Rytz. Dabei zielen sie auf die FDP: Die einst sehr starken Liberalen haben noch immer zwei Sitze im Bundesrat, obwohl sie mit mittlerweile 15,1 Prozent Wähleranteil nur noch knapp vor den Grünen liegen - ihr Anspruch wackelt also, das sehen fast alle Parteien so. Und während die FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter als fähig und integrierend gilt, hat ihr Parteikollege Cassis einen schlechten Stand. Die Grüne Rytz hat deutlich gemacht, dass es sein Sitz ist, den sie im Visier hat.

Die Kritik an Cassis, der nach seiner Wahl das Außenministerium übernommen hat, ist tatsächlich unüberhörbar, auch in anderen Parteien. Die linken Kräfte stören sich insbesondere daran, dass der Tessiner Außenpolitik vor allem als Außenwirtschaftspolitik definiert. In einem Strategiepapier, erarbeitet von einer von Cassis eingesetzten Arbeitsgruppe, heißt es etwa: "Außen- und Handelspolitik funktionieren als homogenes Ganzes." Oder: Das Außenministerium "sollte der Förderung außenwirtschaftlicher Interessen mehr Gewicht geben". Cassis verfolgt diese Wirtschaftsnähe nicht nur auf dem Papier. Anfang 2019 besuchte er auf einer Afrika-Reise eine Kupfer-Mine des umstrittenen Schweizer Rohstoffkonzerns Glencore und twitterte begeistert über die Modernisierung der dortigen Anlagen. Glencore nutzte die Gratiswerbung und schickte das Cassis-Foto als Werbetweet um die Welt.

Im Sommer musste Cassis sich rechtfertigen, warum ausgerechnet der schweizerisch-amerikanische Tabakkonzern Philip Morris die Eröffnung der Schweizer Botschaft in Moskau mit Geld unterstützte und nun auch Hauptsponsor des Schweizer Pavillons bei der Weltausstellung 2020 in Dubai werden sollte - obwohl dies offenbar internen Sponsoring-Richtlinien widersprach. Und im Oktober machte Cassis einen ehemaligen Nestlé-Manager zum Vize-Direktor der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit.

Als Cassis' größter Fehler gilt jedoch seine Strategie in den Verhandlungen mit der EU um ein Rahmenabkommen: Er opferte am Verhandlungstisch Teile der Lohnschutzmaßnahmen - jene Ausnahmen, die sich die Schweiz auf dem europäischen Binnenmarkt ausbedungen hat, um ihre hohen Löhne zu schützen. Damit vergraulte er linke Parteien und die Gewerkschaften, weshalb das Rahmenabkommen mit Brüssel noch immer nicht unterzeichnet ist.

In Umfragen erhält Cassis entsprechend niedrige Beliebtheitswerte. Als sich dann vor wenigen Wochen die Grünen auf ihn einschossen, wurde er spürbar nervös. "Ich bin zuerst einmal anders, ich komme aus einer anderen Kultur, aus einer anderen Sprache", sagte er in einem Interview mit dem Sender TeleZüri Mitte November. "Das ist schon mal ein Unterschied, und Unterschiede stören auch." Anders ausgedrückt: Ihm würden so viele Vorwürfe gemacht, weil er Tessiner sei.

Für Ignazio Cassis, so viel steht fest, wird dieser Mittwoch kein angenehmer Tag sein. Zwar gilt die ungeschriebene Regel, dass amtierende Bundesräte nur in absoluten Ausnahmefällen abgewählt werden. Und: Der Faktor Tessin ist vielen Parlamentariern wichtig. So haben bisher nur die Sozialdemokraten und Teile der Grünliberalen angekündigt, für Regula Rytz statt für den Außenminister zu stimmen - was für die nötige absolute Mehrheit der Stimmen nicht reichen wird. Cassis dürfte aber mit einem sehr schlechten Ergebnis wiedergewählt werden. Kein guter Start in eine neue Legislatur.

© SZ vom 11.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: