Russlands Modernisierungsmangel:Was nach Putin kommt

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Allgegenwärtiger Präsident: Putin auf Bildschirmen in einem Moskauer Elektrogeschäft während seiner im Fernsehen übertragenen Fragestunde (Foto: AFP)

Der Herrscher im Kreml hat alle Ansätze einer Zivilgesellschaft vergiftet. Doch wenn er stürzt, muss nichts Besseres nachkommen. Es fehlen Strukturen, das Land aufzufangen.

Kommentar von Julian Hans

Aus dem Erbe der zerfallenen Sowjetunion hat Russland die besten Stücke mitgenommen und zugleich die schwerste Last. Andere ehemalige Sowjetrepubliken konnten sich auf die Aufgabe konzentrieren, den eigenen Staat aufzubauen; die Entwicklung der Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit zeigt, dass das allein schwer genug ist. Russland aber schleppt seit einem Vierteljahrhundert die Bürde mit sich herum, nach einem verlorenen Kalten Krieg weiter Ordnungsmacht im postsowjetischen Raum sein und auch global den Ton mit angeben zu wollen.

Nachdem es zwischenzeitlich Anlass zur Hoffnung gab, Russland könne den Energie-Boom nutzen, dauerhaft und stabil auf die Füße zu kommen, wird seit Beginn von Wladimir Putins dritter Amtszeit immer deutlicher, dass er die Chance für eine Modernisierung des Landes vertan hat. Die Vorgänge in der Ukraine sind kein Beleg russischer Stärke, sondern russischer Schwäche, weil Moskau kein anderes Mittel fand als Gewalt, um seinen Einfluss zu sichern.

Für die Bürger ist das Bild noch düsterer

Wegen der Einmischung des Staates und der Investitionsunsicherheit war die Wirtschaft schon vor der Krise kaum noch gewachsen. Seit einem halben Jahr aber geht es abwärts. Der Rubel fällt, die Inflation steigt, Kapital flieht. Zu allem Übel schmiert auch noch der Ölpreis ab, von dem 70 Prozent der Exporte und die Hälfte des Staatshaushalts abhängen. Niedrige Energiepreise, hohe Inflation und ein schwacher Rubel - sie prägten jene verteufelten Neunzigerjahre, aus deren Chaos Putin stets vorgab, die Russen errettet zu haben. Nun sind sie zurück.

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Ein Kommentar von Daniel Brössler, Brüssel

Für die Bürger ist das Bild noch düsterer: Die zarten Triebe einer Zivilgesellschaft, die sich in den Protesten gegen die manipulierten Wahlen 2011 und 2012 gezeigt hatten, wurden seitdem systematisch ausgerissen, ausgedorrt und vergiftet. Dies geschah mit den Mitteln einer gelenkten Justiz, die von einem willfährigen Parlament mit repressiven Gesetzen ausgestattet wurde. Ergänzend wirkte der Geheimdienst, der sich bestens darauf versteht einzuschüchtern, Zwietracht zu säen und Solidarität zu zerstören.

Misstrauen gegenüber der Staatsmacht sitzt tief

Daraus und aus den hohen Zustimmungswerten für Putin von mehr als 80 Prozent zu schließen, das Regime sei stabil, wäre ein Irrtum. Machtwechsel kamen in der russischen Geschichte stets unerwartet. Und der Putin-Kult, über dessen bizarre Auswüchse man im Westen den Kopf schüttelt, ist letztlich nichts weiter als ein Mittel, das tiefe Misstrauen gegenüber der Staatsmacht auszugleichen, das in Russland traditionell tief sitzt.

Genauso trügerisch wäre es aber, auf einen Sturz Putins zu hoffen. Nichts deutet derzeit darauf hin, dass das, was danach käme, mehr den Vorstellungen von einem freien, friedlichen und demokratischen Land entspräche. Alle liberalen, demokratischen Kräfte sind erfolgreich marginalisiert und diskreditiert. Jenseits des revanchistischen Großmachtgetöses findet keine Debatte mehr statt. Wenn das Regime stürzt, wird kein Netz da sein, das das Land auffängt.

Europa, das gegenwärtig hart mit dem anderen Machtpol auf dem Kontinent ringt, sollte sich daher frühzeitig überlegen, was es tut, wenn dieser Pol morgen implodiert. Aufrufe, die russische Zivilgesellschaft zu unterstützen, sind richtig. Seit ein Gesetz russische Organisationen zwingt, sich als "ausländische Agenten" registrieren zu lassen, wenn sie Geld aus dem Ausland bekommen, ist dieser Weg aber sehr schwer geworden.

Politisch verwaiste Gruppen sind ideale Opfer für Manipulation

Umso wichtiger ist es daher, dass die Staaten in Russlands Einflussgebiet stabil und widerstandsfähig werden. Viele Länder wünschen sich stabile demokratische Institutionen, allen voran Georgien und die Ukraine. Europa sollte sie beim Aufbau noch stärker unterstützen und ihre Vernetzung untereinander fördern. Wenn die Demokratisierung immer mehr eine Initiative der Osteuropäer selber wird, würde auch der falsche Eindruck vermieden, es gehe um spezifisch "westliche Werte".

Auch die Russen im Ausland könnten eine wichtige Rolle spielen, egal ob sie ihre Heimat aus politischen oder anderen Gründen verlassen haben. Ein Ansatz dazu ist Michail Chodorkowskijs Stiftung Offenes Russland, in der sich Intellektuelle aus dem Land und aus der Emigration engagieren. Ein anderes Modell ist die Europäische Humanitäre Universität, die ihre Arbeit im Exil fortsetzt, seit der weißrussische Autokrat Alexander Lukaschenko sie in der Heimat schließen ließ. Die Universität bildet heute weißrussische Studenten in Vilnius aus. Zur Stabilisierung gehörte auch, russische Minderheiten anzusprechen und besser zu integrieren, insbesondere im Baltikum. Politisch verwaiste Gruppen sind - wie im Donbass - ideale Opfer für die Manipulation des Kreml.

© SZ vom 16.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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