Russland:Wieder mittendrin

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In Kaliningrad haben Juden achtzig Jahre nach der Zerstörung der Synagogen durch die Nazis ein neues Gotteshaus errichtet - daran knüpft sich die Hoffnung, dass die einst bedeutende Gemeinde auflebt.

Von Silke Bigalke, Kaliningrad

Das größte Hindernis, sagen nun alle, war der Zirkus. Der hatte seine Zelte ausgerechnet dort aufgeschlagen, wo früher die Synagoge stand. Mehr als 80 Jahre ist das her, damals hieß die Stadt noch Königsberg. Nicht viel ist aus dieser Zeit geblieben, und nur sehr wenig wurde wieder aufgebaut. Doch die Synagoge ist fast fertig. Sie steht am alten Ort, unter neuer Adresse: Oktjabrskaja- statt Lindenstraße, in Kaliningrad statt Königsberg.

Leonid Plitman parkt seinen Wagen vor dem Bauzaun. Sie haben dem Zirkus viel Geld gezahlt, damit er das Grundstück räumt. Drinnen finden noch keine Gottesdienste statt, der Rohbau riecht nach Sperrholzplatten und Erde. Plitman steigt die Treppen hoch, der Ingenieur ist einer der lokalen Unternehmer, die für die Synagoge gespendet haben. Sie ist kleiner als das Original, doch die runde Kuppel, die spitzen Türmchen lassen keine Zweifel daran, dass sie sich hier auch ein Stück Vergangenheit zurückholen möchten.

Nur wessen Vergangenheit? Plitman ist in Weißrussland geboren, mit sieben Jahren kam er nach Kaliningrad. "Damals lag die Stadt in Ruinen", sagt er. Und damals habe es keine Juden gegeben, auch keine Russen, überhaupt keine Nationalitäten. "Wir alle waren Bürger der Sowjetunion." Mehr nicht. Von Religion habe er keine Vorstellung gehabt, das kam später. Einige Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion besuchte ihn ein Moskauer Rabbiner. "Er kam in mein Haus und sagte, ich solle jetzt jüdisch leben." Und das hat er getan.

Plitman öffnet die verzierte Holztür zum Innenraum im zweiten Stock. Hier sollen die Gottesdienste stattfinden, der Saal hat weiße Steinsäulen, Empore und Bima sind aus grauem Holz. Plitman hat den Thoraschrein gestiftet, vor dem ein roter Vorhang hängt. "Für meinen Vater und meine Mutter", ist unten ganz klein darauf gestickt. Sein Vater hat in der Schlacht um Königsberg gekämpft, eine Ausstellung im Nebenraum zeigt ihn und andere Juden in sowjetischer Uniform. Das deutsche Königsberg wurde 1944 im Krieg zerstört, die fünf Synagogen der Stadt schon Jahre zuvor. Sie brannten in der Reichspogromnacht am 9. November 1938. Die Einweihungsfeier für die neue Synagoge haben sie auf diesen Jahrestag vorgezogen, auch wenn noch nicht alles fertig ist.

Die Kuppel und spitze Türme der neuen Synagoge von Kaliningrad erinnern an das von den Nazis zerstörte Original. Sie wurde am historischen Standort im Zentrum errichtet, dessen Brachen und Plattenbauten noch von Zerstörung im Krieg und Abschottung in der Sowjetunion zeugen. (Foto: Yevgeny Grantyn/imago)

Königsberg war einst Zentrum der Aufklärung, das Grab von Immanuel Kant liegt nur hundert Meter von der Synagoge entfernt. Die jüdische Gemeinde, damals eine der größten in Deutschland, wurde von den Nazis ausgelöscht, jüdisches Leben später von den Kommunisten unterdrückt. Die erklärten Kaliningrad nach dem Krieg zur Sperrzone, neue Bewohner wurden aus der gesamten Sowjetunion dorthin verpflanzt. Wer religiöse Wurzeln hatte, traute sich kaum, über sie nachzudenken. "Die frühere Generation hat so gelitten", sagt Rabbiner David Schwedik, "dass sie nicht wollte, dass ihre Kinder davon wissen." Sie hätten ihre Traditionen und auch das Jiddische nicht weitergegeben. Er selbst habe bis zu seinem 27 Lebensjahr nicht gewusst, was es heißt, ein Jude zu sein, "was ich als Jude tun muss".

Bis die Synagoge fertig ist, trifft sich seine Gemeinde im Erdgeschoss eines Wohnhauses, früher war dort eine Wäscherei. Durch eine Küche gelangt man in den Raum, in dem sie die Gottesdienste feiern. Hier stehen ein großer und kleiner Tisch, der kleinere für die Frauen. Beim Gebet trennen sie ihn mit einem goldgelben Tuch ab, alles ist hier etwas eng.

Rabbiner Schwedik vergleicht Kaliningrad gerne mit Amerika. "Warum? Weil in Amerika fast niemand lange Wurzeln hat", sagt er. Auch in Kaliningrad lebten viele Immigrantenkinder. Er selbst ist 1998 aus Rostow nach Kaliningrad gezogen, damals hätten 2000 Juden in der Stadt gelebt, heute seien es schon 3000. Und das, obwohl zwischendurch viele nach Israel, Deutschland oder in die USA ausgewandert seien. "Eine wunderbare Mathematik", sagt der Rabbiner und erklärt sie damit, dass sich immer mehr Russen "plötzlich als Juden fühlen". Im ganzen Land sind es laut dem Verband jüdischer Gemeinden etwa eine Million, die Hälfte von ihnen lebt demnach in Moskau. Doch Moskau ist weit weg und Kaliningrad heute eine Exklave, die durch Litauen und Weißrussland vom Rest des Landes getrennt ist. Viele Kaliningrader fahren eher zu Besuch nach Berlin als in die russische Hauptstadt. Und obwohl Kaliningrad mit seinem Zugang zur Ostsee strategisch wichtig ist, interessiert man sich auch in Moskau eher selten für die ferne Stadt - zur Fußballweltmeisterschaft etwa oder zum 750. Stadtjubiläum vor einigen Jahren.

Den Neubau haben Spender finanziert - Unterstützung vom russischen Staat gab es nicht

Für die Synagoge gab es keine Hilfe vom Staat. Bezahlt hat den Bau vor allem ein reicher Geschäftsmann, der mehrere Restaurants besitzt. Wladimir Kazman hat bereits vor einigen Jahren ein Denkmal für die Opfer des Holocausts gestiftet. Es steht in Jantarny, das früher Palmnicken hieß, knapp eine Autostunde von Kaliningrad entfernt. Kurz vor Kriegsende haben die Nazis mindestens 3000 Juden, die meisten aus Osteuropa, am Strand von Palmnicken erschossen.

Kazman ist nicht zu Hause, gibt telefonisch Auskunft. Er stammt aus Grosny, sein Großvater sei dort an der Erdölhochschule Dozent gewesen und habe nachts Radio Liberty gehört, seine Mutter war Mathematiklehrerin an der Abendschule, sie waren Juden. "Aber sie haben es mir nicht beigebracht", sagt er. "Sie haben mir gesagt: Bleib im Hintergrund!" Heute feiere er zwar Chanukka und das Purimfest. "Aber so sorgfältig werde ich die Thora wahrscheinlich nie studieren", sagt er.

"Ich möchte etwas für mein Volk tun, es stärker machen." Deshalb hat er umgerechnet etwa sechs Millionen Euro in die Synagoge gesteckt, noch mal 1,8 Millionen hätten andere Spender beigetragen. 2011 haben sie den ersten Stein gelegt, so lange zieht sich der Bau schon. Schuld ist nicht allein der Zirkus, es mussten auch Denkmalschutzbestimmungen geklärt werden, eine Hürde nach der anderen. Sie haben Glück gehabt: Die muslimische Gemeinde in Kaliningrad wollte eine Moschee bauen und ist per Gerichtsverfahren gestoppt worden, als das Gebäude fast fertig war.

Undatierte Aufnahme der 1938 von den Nazis zerstörten Synagoge in der Lindenstraße von Königsberg, die heute Oktjabrskaja-Straße heißt. (Foto: N/A)

Ihre Synagoge verändert das Stadtbild von Kaliningrad, wo karge Freiflächen im Zentrum und billige Betonplatten immer noch an Zerstörung und Abschottung erinnern. Nebenan soll ein Gemeindezentrum entstehen, mit Bibliothek, Kindergarten, Museum und Restaurant, alles gegenüber vom Dom auf seiner Flussinsel, einem der wenigen Gebäude, das wiederhergestellt wurde. Wenn Kaliningrad einen alten Kern hat, dann ist er dort. Und die jüdische Gemeinde ist nun wieder mittendrin. Es ist, als wolle sie auch daran erinnern, wie viele sie einst waren und wie wichtig für die Stadt.

Leonid Plitman ist wieder unterwegs, er fährt zum einzigen erhaltenen jüdischen Friedhof. Ein Schotterweg führt in ein Wäldchen zwischen Wohnhäusern. Die Gemeinde hat einen Zaun um die letzten verbliebenen Grabsteine gezogen, viel ist nicht übrig. Plitman geht zum Grab des Gelehrten Israel Salanter. Der Marmorstein, den sie dort vor Jahren aufgestellt haben, ist zerstört worden. Jetzt haben sie einen stabilen weißen Betonblock auf die Stelle gesetzt, damit Besucher das Grab finden.

Gibt es Antisemitismus in Kaliningrad? Das Denkmal in Palmnicken ist vor einigen Jahren mit Farbe beschmiert worden und die Informationstafel an der Baustelle für die Synagoge wurde mehrmals zerstört. Rabbiner Schwedik weicht aus: "Vielleicht gibt es so Randgruppen, nur wissen wir von denen nichts", sagt er. Inzwischen ist es Freitagabend, elf Männer und fünf Frauen sind zum Gebet gekommen. Nachdem sie den gelben Vorhang wieder aufgezogen haben und der Rabbiner den Wein verteilt hat, decken die Frauen den Tisch, es gibt Kartoffeln, Fisch, Frikadellen, gekochten Kürbis und Suppe. Die Männer schenken Bier und Wodka aus, und diskutieren über die Moskauer Politik - Juden aus Polen, der Ukraine, Kasachstan, Weißrussland. Den kleinen Raum füllen sie gut aus, für die neue Synagoge wären sie recht wenige. Bringt der größere Raum eine größere Gemeinde mit sich? In Kaliningrad hilft manchmal auch ein wenig wundersame Mathematik.

© SZ vom 05.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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