Krieg in der Ukraine:Entscheidende Tage

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Die Überreste einer russischen Rakete bei Lyssytschansk, dem ebenfalls umkämpften Nachbarort Sjewjerodonezks. (Foto: Aris Messinis/AFP)

Für die ukrainischen Verteidiger läuft es im Osten gerade nicht gut. Kommt nun die russische Offensive wieder voran?

Von Nicolas Freund, München

In diesen Tagen könnte sich entscheiden, wie die nächsten Wochen des Krieges in der Ukraine verlaufen: ob die ukrainischen Streitkräfte an ihre Erfolge der letzten Zeit anknüpfen können oder ob die Donbass-Offensive der russischen Armee neue Vorstöße der Invasoren ermöglicht. Aus den Meldungen des Wochenendes zu schließen, läuft es im Osten des Landes gerade nicht gut für die ukrainischen Verteidiger. Am Sonntag behauptete das russische Verteidigungsministerium, ein großes Waffenlager der ukrainischen Armee in Krywyi Rih zerstört zu haben, und am Samstag wurde gemeldet, russische Truppen hätten den strategisch günstig gelegenen Ort Lyman eingenommen. Der britische Militärgeheimdienst geht davon aus, dass die russischen Truppen von hier aus in den nächsten Tagen weiter Richtung Westen vorstoßen werden. Auch die nahe gelegene Stadt Sjewjerodonezk, der letzte nicht besetzte Teil des Luhansk Oblast, ist laut ukrainischem Generalstab nach wie vor schwer umkämpft. Die gesamte kritische Infrastruktur der Stadt sei zerstört. Russische Truppe haben die Stadt teilweise eingekreist. Eine Eroberung wäre ein strategisch nachrangiger, aber symbolisch bedeutender Sieg für Russland, denn mit der vollständigen Einnahme der Region Luhansk hätte Moskau eines seiner neu definierten Kriegsziele erreicht und gezeigt, dass die eigene Armee nicht mehr nur zurückgedrängt wird.

Überhaupt scheinen die kleinen Erfolge der ukrainischen Verteidiger im Norden bei der Stadt Charkiw und im Süden bei Cherson etwas zu optimistisch bewertet worden zu sein. Am Sonntag hatte auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij Charkiw besucht und Soldaten ausgezeichnet - seine erste Reise seit Beginn des Krieges. Kurz nach Bekanntwerden seines Besuchs soll Charkiw nach Angaben von Bürgermeister Ihor Terechow von russischen Truppen beschossen worden sein.

Die ukrainische Rückeroberung größerer Gebiete scheint derzeit unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich, die Gegenoffensive bei Charkiw soll kaum noch vorankommen. Das liegt auch daran, dass die russische Armee schon vor Wochen ihre Strategie geändert hat, was sich nun wie in der Region um Sjewjerodonezk auszuzahlen scheint. "Im Gegensatz zum bisherigen Kriegsverlauf gehen sie nicht mehr an breiten Abschnitten der Front vor, sondern ziehen ihre Truppen zusammen, um an kleinen Stücken der Front voranzukommen. Dadurch haben sie derzeit eine personelle Überlegenheit", sagte der Politologe und Militärexperte Carlo Marsala von der Universität der Bundeswehr in München der Deutschen Presse-Agentur. Dazu komme, dass es der Ukraine nach wie vor an schweren Waffen fehle. Auf Twitter kritisierte der CDU-Abgeordnete Norbert Röttgen, dass einen Monat nach den versprochenen Lieferungen aus Deutschland noch immer nichts in der Ukraine angekommen sei.

Die Experten vom Institute for the Study of War in Washington schätzen die aktuelle Lage für Russland aber als nicht viel besser ein. Die russischen Verluste seien noch immer sehr hoch, der Aufwand, den Moskau zur Eroberung von Sjewjerodonezk betreibe, sei unverhältnismäßig und zeige die äußersten Möglichkeiten der russischen Armee. Die Truppenkonzentration in dieser Region verhindere außerdem Fortschritte an anderen Orten. Für die Ukraine würden sich so Chancen für Gegenoffensiven ergeben. Auch den Einsatz alter Panzer vom Typ T-62 im Süden der Ukraine werten die Experten als Zeichen für anhaltende Probleme der russischen Streitkräfte. Diese Einschätzungen wirken im Kontext der anderen Meldungen vom Wochenende allerdings sehr optimistisch.

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