Russland:Land der Verhärtungen und Verbote

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Die Ökonomin Natalja Akindinowa lehrt in Moskau. (Foto: TASS PUBLICATION)

Die Russen haben gute Gründe enttäuscht zu sein, meint die Ökonomin Natalja Akindinowa. Sie plädiert für Justizreformen.

Interview von Silke Bigalke

Natalja Akindinowas Büro liegt in Moskau neben dem Handelsministerium, nicht weit vom Kreml entfernt, in einem Altbau mit Uni-Charme. Ein Vorzimmer, ein voller Schreibtisch. Die Ökonomin betont, dass sie im Interview eigene Ansichten vertritt, nicht die ihres Arbeitgebers. An der Higher School of Economics leitet Natalja Akindinowa das Entwicklungsinstitut. Sie analysiert, wie es Russlands Wirtschaft geht - alles andere als gut. Das müssen die Menschen ausbaden, die sich wegen höherer Steuern, späterer Renten, schwachen Rubels und schlechten Jobs immer weniger leisten können. Die Ökonomin erklärt, warum das die Regierung nicht in Schwierigkeiten bringt, und andere Paradoxa der russischen Wirtschaftspolitik.

SZ: Die Stimmung in Russland ändert sich, die Menschen sind immer unzufriedener mit der Regierung. Zu Recht?

Akindinowa: Es stimmt. Die Russen haben Gründe, enttäuscht zu sein. Die Realeinkommen sinken seit 2014. Ein Problem ist, dass immer weniger Leute in großen Unternehmen mit gutem Gehalt arbeiten. Zunehmend arbeiten sie in Kleinbetrieben, sind selbständig oder schwarz beschäftigt. Ihnen bleibt immer weniger Geld. Sie spüren, dass die Wirtschaft stagniert.

Warum gibt es keine besseren Jobs?

Die Lage der Privatwirtschaft verschlechtert sich. Die Binnennachfrage ist zu gering, auf dem internationalen Markt sind russische Produkte selten konkurrenzfähig. Unsere Exportstruktur ist sehr eingeschränkt, dazu die Sanktionen. Dann haben Europa und die USA höhere Anforderungen, wie Unternehmen geführt werden, Banken prüfen die Herkunft von Geld, Steuerinformationen werden ausgetauscht. Und: In Russland missbrauchen Rechtsorgane ihre Macht. Strafverfolgung wird benutzt, um Geschäftsstreitigkeiten auszutragen. Das schreckt Investoren ab.

War es schon mal besser?

Vielleicht als Dmitrij Medwedjew Präsident war, 2008 bis 2012, obwohl auf den Beginn dieser Periode die Wirtschaftskrise fiel. Viele Experten machten damals Vorschläge für liberale Reformen. Die Gesellschaft war freier. Es gab offene Kritik an den Machtstrukturen und keine negativen Folgen. Man sprach sogar über Änderungen im politischen System, dass politische Konkurrenz real sein muss.

Doch Medwedjew trat nicht wieder an, und Putin wurde erneut Präsident.

Nach der Duma-Wahl im Dezember 2011 gab es Proteste, weil Wahlbeobachter Missbrauch feststellten. Doch nach Putins Inauguration wurden die Demonstrationsteilnehmer verfolgt, viele kamen ins Gefängnis. Es wurde klar, dass solche politische Tätigkeit in Russland nun gefährlich ist. Zuerst wurden Freiheiten im politischen Bereich unterdrückt, dann in der Wirtschaft.

Wo wird das spürbar?

Es gibt Verhärtungen und Verbote in allen Bereichen. Jetzt versuchen Behörden, Internetinhalte zu regulieren. Menschen werden bestraft für Reposts und für unerwünschte Aussagen im Netz. Dazu die Idee eines isolierten russischen Internets. Auch das schadet der Wirtschaft. Im Wirtschaftsblock der Regierung gibt es zwar eine Gruppe Progressiver, die versucht, kleine und mittlere Betriebe zu entwickeln. Aber es ist schwer, den Widerstand der konservativen Bürokratie zu bewältigen.

Gibt es noch Liberale in der Regierung?

Es gibt in Russland Liberale, aber die haben keine Regierungsposten. Ein interessanter Fall ist Alexej Kudrin, der zur Medwedjew-Zeit die Regierung verlassen musste. Jetzt leitet er den Rechnungshof. Er spricht über den Schaden der Sanktionen für die Wirtschaft, was nicht immer gefällt. Er sagt offen, dass wir gute Beziehungen zum Westen brauchen. Kudrin hat eine Position als offizieller Kritiker der Macht. Aber er kann wenig beeinflussen.

Trotzdem darf er, was niemand sonst darf: Wladimir Putin kritisieren.

Er ist die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Als Finanzminister sorgte er durch einen Stabilisierungsfonds dafür, dass Russland die Krisen 2008 und 2014 relativ erfolgreich überwinden konnte. Andernfalls hätten die Sanktionen und der Preisverfall beim Erdöl Putins Macht gefährdet. Kudrin hat dem Präsidenten da einen unschätzbaren Dienst erwiesen, daher kommt Putins Vertrauen zu ihm.

Putin hat mehr Geld für viele soziale Bereiche versprochen. Sind das Geschenke an die Wähler, um Proteste zu verhindern?

Was Putin in seiner Jahresansprache versprach, sind keine sehr teuren Maßnahmen. Putins Leute sind besorgt, weil seine Umfragewerte sinken und das Vertrauen der Bevölkerung abnimmt. Aber was er versprochen hat, hilft nur einem sehr kleinen Kreis. Die Wähler begreifen das, das hat Putins Ratings nicht wesentlich verbessert.

Wie lange lassen sich die Menschen seine Politik noch gefallen?

Proteste brauchen ein hohes Niveau an Selbstorganisation und Solidarität. Das ist für Russland heute untypisch. Nicht mal die Tragödie in Kemerowo 2018 führte zu Protest. Wegen Korruption und Fehlern von Behörden und Feuerwehr brannte ein Einkaufszentrum ab. Viele Menschen, Kinder starben. Es gab keinen Aufstand.

Warum nicht?

Es fehlte die Bereitschaft, sich mit Problemen zu beschäftigen. Zugleich kann man den Menschen kaum vorwerfen, dass sie nicht auf die Straße gehen. Alle Andeutungen, dass sich Gruppen organisieren und die Interessen der Leute vertreten könnten, werden hart unterdrückt.

Und wenn sich die Lage verschlechtert?

Die Wirtschaft ist trotz großer Probleme stabil genug. Russland ist durch einen Fonds auch gegen Ölpreissenkungen mehr oder weniger versichert. Man hat reales Geld und keine Schulden, die Lage kann über eine gewisse Zeit gerettet werden.

Den Menschen geht es schlecht, aber dem Staat geht es gut?

Grundlage ist der Brennstoffsektor, er sorgt für Stabilität in der Staatskasse. Eine große Rolle spielen auch Großbetriebe, die seit der Sowjetzeit bestehen, im Maschinenbau, der Militär-, der Chemieindustrie, in der metallverarbeitenden Branche, bei Infrastrukturbetrieben. Oft sind das Monopole, sie erhalten die Staatsaufträge. Die Beschlüsse dieser Unternehmen kontrolliert die Regierung. Die wichtigen russischen Oligarchen finden Platz an einem Tisch. Das macht den Großteil der Wirtschaft relativ stabil und leicht verwaltbar.

Wo müssten Reformen ansetzen, um die Lage für alle Menschen zu verbessern?

Bei den Rechtsorganen. Heute werden Strafverfahren für Geld eingeleitet und für Geld geschlossen. So kann man unliebsamen Konkurrenten schaden. Das ist ein Business. Man kann nicht sagen, dass Gerichte und Staatsanwälte ihre öffentliche Funktion nicht ausüben. Aber in vielem sind sie korrumpiert. Die Leute haben Angst, dass man ihnen alles wegnimmt und sie ins Gefängnis wirft. Das schränkt die Wirtschaft stark ein. Ich weiß nicht wie, aber dies zu ändern wäre das Wichtigste.

© SZ vom 13.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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