Russland:Den letzten Zahn gezogen

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Er leitete die einzige verbliebene Plattform für einen Dialog zwischen dem Kreml und der russischen Zivilgesellschaft: Michail Fedotow wurde nun von Wladimir Putin abgesetzt. (Foto: Yegor Aleyev/imago images/ITAR-TASS)

Er leitete die einzige verbliebene Plattform für einen Dialog zwischen dem Kreml und der russischen Zivilgesellschaft. Nun wurde Michail Fedotow abgesetzt - aus Altersgründen, wie es hieß.

Von Frank Nienhuysen, München

Mit 70 Jahren darf man sich etwas zurücknehmen, heißt es, warum sollte das nicht auch für Michail Fedotow gelten? Als Präsident Wladimir Putin jedoch den Vorsitzenden des russischen Menschenrechtsrats am Montag aus Altersgründen absetzte, reagierte das kritisch-liberale Lager in Russland entsetzt. Die Hälfte des Gremiums, 30 Mitglieder, schrieb in einem Brief an Putin, er solle Fedotow wegen seiner Verdienste im Amt belassen. Die Moskauer Helsinki-Gruppe sprach von "Anzeichen einer totalen Erstickung der Zivilgesellschaft", und bitterböse bemerkte der Oppositionspolitiker Dmitrij Gudkow: "Lasst uns einen Toast aussprechen, für diese fantastische Klarheit!" Alles sei jetzt an seinem Platz. "Wir werden nun einen anderen Rat für Menschenrechte haben."

Fedotow, der den Rat seit Oktober 2010 geleitet hat, wird durch den regierungstreuen Walerij Fadejew ersetzt. Der 59-Jährige ist Mitglied der Regierungspartei Einiges Russland und hatte beim halbstaatlichen Fernsehsender Erster Kanal jahrelang die wichtigsten Abendnachrichten moderiert. Den Einsatz der Polizei gegen Demonstranten hat er einmal als "äußerst soft" bezeichnet, und das sei ja auch besser als "gleich mit dem Knüppel auf den Kopf".

Aber nicht allein der Führungswechsel im russischen Menschenrechtsrat löste Kritik aus. Auch andere Mitglieder sind entlassen worden, unter ihnen Pawel Tschikow, Direktor der vor allem aus Juristen bestehenden Menschenrechtsorganisation Agora, und die Politologin Jekaterina Schulman - nach weniger als einem Jahr. Ihr Mann soll vor der Wahl in Moskau unabhängigen Kandidaten einen Raum zur Verfügung gestellt haben, in dem sie Unterschriften sammeln konnten. Schulman selbst postete nach ihrer Entlassung: "Alle sind frei. Ein Berg ist von unseren Schultern weg." In einem Youtube-Video sprach sie, am Küchentisch sitzend, davon, dass niemand etwas Unangenehmes hören wolle, dass der Rat keine Macht habe.

Michail Fedotow hatte sich zuletzt bissig gezeigt und Willkür des Staates angeprangert

Die Kritiker der Personalwechsel befürchten, dass der Menschenrechtsrat nun erst recht bedeutungslos wird. Schon lange gilt er als recht zahnlose und trotzdem wichtige Institution, an der sich die Geister schieden. Vergeblich hatte der bisherige Vorsitzende Fedotow versucht, einige Gesetzesverschärfungen abzuwenden, etwa jenes, das zivilen NGOs das Etikett "ausländischer Agent" anheften kann. Ljudmila Alexejewa, die frühere große Autorität der russischen Menschenrechtsbewegung, verließ einst freiwillig den Rat und schloss sich ihm Jahre später dann doch wieder an, weil er immerhin die einzige verbliebene Plattform für einen Dialog zwischen Kreml und der russischen Zivilgesellschaft sei. "Manchmal hört der Kreml auf den Rat", sagte Alexejewa, die im vorigen Dezember mit 91 Jahren starb.

Zuletzt hatte sich der Menschenrechtsrat bissig gezeigt und Willkür des Staates im Umgang mit den regierungskritischen Protesten angeprangert. Er setzte sich etwa für den Aktivisten Konstantin Kotow ein, der zu vier Jahren Straflager verurteilt wurde, weil er mehrmals an ungenehmigten Demonstrationen teilgenommen habe. In einem Gutachten weist das Gremium darauf hin, dass es keinerlei Beweise für eine Bedrohung durch Kotow gegeben habe und dass entlastende Zeugenaussagen ignoriert worden seien.

Solcher Einsatz gegen umstrittene Urteile und für politische Bürgerrechte dürfte aus dem Menschenrechtsrat künftig verschwinden. Der neue Vorsitzende Fadejew machte am Dienstag in einem Interview mit dem Kommersant deutlich, dass er seine Aufgabe anders interpretieren werde als sein Vorgänger. Vor allem werde er sich weniger um die politischen Rechte der Russen kümmern als etwa um das Recht auf "würdige Bezahlung von Arbeit", Wohnraum oder medizinische Versorgung. Als er darauf angesprochen wurde, dass bei der Wahl zum Moskauer Stadtparlament unabhängige Kandidaten nicht antreten durften und bei Verstößen durch regierungstreue Kandidaten Augen zugedrückt worden seien, sagte er: "Hmm. Das kann ich nicht kommentieren."

Fedotow, sein Vorgänger, hat indessen eine neue Aufgabe im Sinn. Er will an der angesehenen Moskauer Higher School of Economics einen neuen Unesco-Lehrstuhl besetzen. Seine 70 Jahre sind für ihn kein Hindernis.

© SZ vom 23.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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